1973
Das Jahr der spontanen Streiks

Gleiche Löhne, bessere Arbeitsbedingungen und Respekt: Das fordern Tausende migrantische Arbeiterinnen und Arbeiter im Sommer 1973. Mit spontanen Arbeitsniederlegungen machen sie auf die massiven Ungleichbehandlungen aufmerksam.

4. August 20234. 8. 2023


„Mehr Geld, mehr Geld“ rufen die Streikenden. Im Sommer 1973 ist die Stimmung aufgeheizt. In vielen Betrieben stehen die Bänder still. Vor den Werkstoren versammeln sich vor allem Beschäftigte, die als Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter aus den südeuropäischen Ländern angeworben wurden: Sie tragen Plakate oder Megaphone, die Hände kämpferisch in die Luft gestreckt oder Hand in Hand über das Betriebsgelände tanzend. Wut und Frust vieler migrantischer Arbeiterinnen und Arbeiter entladen sich fast zeitgleich in den Betrieben Hella, Pierburg und Ford.

 

Streikjahr 1973

Das Besondere an den Arbeitskämpfen von 1973: Es handelt sich um spontane Arbeitsniederlegungen, auch als wilde Streiks bekannt, die vor allem von migrantischen Beschäftigten geführt wurden. Millionen Kolleginnen und Kollegen aus den südlichen Ländern Europas waren in den Jahren zuvor im Zuge der Anwerbeabkommen in die Bundesrepublik gekommen. Und machten mit ihrer Arbeitskraft das deutsche Wirtschaftswunder möglich.

Die gebürtige Griechin Irina Vavitsa war eine von ihnen: „Wir kamen mit einem Koffer voller Hoffnung, mussten dann aber feststellen, dass man uns hier ungerecht behandelt.“

Im Sommer 1973 ist für viele das Maß voll: Ungerechte Lohn- und Gehaltsunterschiede zwischen deutschen und migrantischen Arbeiterinnen und Arbeitern sowie schlechte Arbeitsbedingungen – das wollen die Kolleginnen und Kollegen nicht mehr hinnehmen.

In ganz Deutschland kommt es zu spontanen Arbeitsniederlegungen von Beschäftigten mit Migrationshintergrund. Einige enden erfolgreich, andere, wie der in den Medien als „Türkenstreik“ verunglimpfte und bekannt gewordene Ausstand bei Ford in Köln, werden gewaltsam zerschlagen.

 

Ford-Streik

Dabei beginnt der Streik bei Ford vielversprechend: Ende August zieht ein Protestmarsch über das Werksgelände. Tausende Beschäftigte bringen ihre Empörung lautstark zum Ausdruck. Anlass ist die Entlassung von 300 türkischen Arbeitern, die verspätet aus dem Urlaub zurückgekehrt sind. Dabei geht es nicht nur um die Solidarität mit den Entlassenen: Die schlechtere Bezahlung im Vergleich zu den deutschen Kollegen, die Beschleunigung der Bandgeschwindigkeit und die teilweise rassistische Behandlung durch die Vorgesetzten haben bereits im Vorfeld für Unmut gesorgt.

Sieben Tage dauert der Streik. Obwohl die Forderung „1 DM mehr für alle“ auch die deutschen Kolleginnen und Kollegen einschließt, solidarisieren sich die Deutschen Arbeiter nicht mit den Streikenden. Im Gegenteil: Die rassistische Hetze vieler Medien, die den Streik teils als „Türkenterror“ bezeichnen, verfängt. Der Streik wird gewaltsam beendet. Es kommt zu Jagdszenen auf die Protestierenden. Mehrere von ihnen werden durch die Knüppel der Streikgegner verletzt. (Dokumentarfilm „Diese spontane Arbeitsniederlegung war nicht geplant“)

Die Folgen für die Streikenden sind fatal: Es kommt zu Festnahmen und Abschiebungen. Etwa 100 von ihnen werden fristlos entlassen, 600 weitere Arbeiterinnen und Arbeiter kündigen unter dem Druck der Geschäftsführung.

 

Die Macht der Solidarität

Anders verlaufen die spontanen Arbeitsniederlegungen bei Pierburg in Neuss und Hella in Lippstadt. Den gewaltsamen Übergriffen der Polizei, den Spaltungsversuchen der Geschäftsführung und der rassistischen Hetze einiger Medien steht in beiden Fällen ein breites solidarisches Netzwerk gegenüber. „Mit so viel Solidarität haben wir nicht gerechnet. Von der Zivilgesellschaft, aber auch von unseren deutschen Kollegen. Sie waren auf unserer Seite, als sie von der unterschiedlichen Bezahlung erfahren haben“, erinnert sich Irina.

In Hella in Lippstadt, wo Irina im Sommer 1973 arbeitet, und bei Pierburg in Neuss stecken vor allem migrantische Frauen in den sogenannten Leichtlohngruppen. Trotz gleicher Arbeit haben sie oft keine Chance auf bessere Bezahlung.

Als Irina und ihre Kolleginnen und Kollegen aus Spanien, Griechenland, Ex-Jugoslawien und Italien dann auch noch mitbekommen, dass die deutschen Facharbeiter eine freiwillige Zulage erhalten, ist das eine Demütigung zu viel. „Bei Hella war das Problem, dass niemand da war, der uns erklärt hat, was ein spontaner Streik ist, was wir dürfen und was nicht. In dem Moment, in dem der Unmut größer wurde, war uns das auch egal. Wegen dieser Ungerechtigkeit mussten wir einfach auf die Barrikaden gehen“, erzählt Irina.

Vier Tage lang legen Tausende migrantische aber auch deutsche Arbeiterinnen und Arbeiter spontan ihre Arbeit nieder – mit Erfolg. Irina und ihre Kollegen erkämpfen unter anderem 40 Pfennig mehr Lohn pro Stunde für die unteren und 30 Pfennig mehr für die höheren Lohngruppen.

Einen Monat nach Irina und ihren Kolleginnen und Kollegen treten auch bei Pierburg in Neuss vorwiegend ausländische Frauen in den Arbeitskampf. Gestärkt durch einen aktiven Betriebsrat, der sich mit den migrantischen Frauen solidarisiert, kämpfen sie erfolgreich gegen die diskriminierende Eingruppierung und Entlohnung.

 

50 Jahre später

Die Ereignisse aus dem Jahr 1973 waren wegweisend für die mirgationspolitische Arbeit der IG Metall. 50 Jahre später sind Menschen mit Migrationsgeschichte ein selbstverständlicher Teil der IG Metall: 24 Prozent der IG Metall-Mitglieder haben einen Migrationshintergrund. In betrieblichen Funktionen sind migrantische Kolleginnen und Kollegen sogar überrepräsentiert. Doch auch wenn die IG Metall als Einwanderungsgewerkschaft viel erreicht hat, gibt es weiterhin große Herausforderungen. So gilt es auch die „neuen“ Einwanderungsgruppen der Geflüchteten oder Beschäftigte aus Mittel- und Osteuropa über ihre Rechte zu informieren. Mit Ansprachematerialien in der jeweiligen Landessprache gelingt es, die ausländischen Kolleginnen und Kollegen zu unterstützen und für die IG Metall zu gewinnen.

Mehr zu „Migrant*innen“
Integration, Arbeit

Präsentationen allgemein und für IG Metall-BezirkeDaten und Fakten zu Mitgliedern mit Migrationshintergrund

Die Ergebnisse der Migrationsstudie der IG Metall nach Bezirken.

Peter Valev arbeitet bei Stadler Rail in Berlin

 MitgliedergewinnungBeschäftigte aus Osteuropa gezielt ansprechen

In Deutschland arbeiten immer mehr Beschäftigte aus osteuropäischen Ländern. Um sie als IG Metall-Mitglieder zu gewinnen stellen wir neue Videos mit den wichtigsten Infos zur IG Metall zur Verfügung – jetzt auch auf Tschechisch, Rumänisch und Bulgarisch.

Mitarbeiter Savas Tecirli bei Schunk in Heuchelheim

MigrationDie IG Metall – eine Heimat für alle

Mehr als 500 000 Metallerinnen und Metaller haben einen Migrationshintergrund. Eine neue Studie zeigt: Viele von ihnen sind stark engagiert – im Betrieb und in der IG Metall.

Flüchtende Ukrainerinnen und Ukrainer bei der Ankunft am Bahnhof in Lemberg

MigrationFaktenblatt Flucht und Asyl

Die EU-Innenminister haben neue Asyl-Regelungen beschlossen. Das Thema sorgt für Debatten bis hinein in die Regierungskoalition. Vor diesem Hintergrund stellen wir euch ein aktualisiertes Faktenblatt zur Verfügung. Es enthält die wichtigsten Zahlen zur Migration nach Deutschland und Europa.

Bundesmigrantenkonferenz_2023

Migrationskonferenz 2023Vielfalt im Betrieb: Wie wir die Mitbestimmung dafür nutzen

Die IG Metall steht für Vielfalt und eine Arbeitswelt ohne Vorurteile. Die Mitbestimmung hilft, diesem Ziel im Betrieb näher zu kommen. Zwei Vertrauensleute und zwei Betriebsratsmitglieder berichten, wie sie dabei konkret vorgehen.

Umarmung zur Begrüßung bei der Bundesmigrationskonferenz (BMK) der IG Metall 2023 in Willingen.

 13. Bundesmigrationskonferenz der IG Metall 2023Unsere Werte sind #unverhandelbar

Unter dem Motto "Unsere Werte sind #unverhandelbar" fand am 15. und 16. Februar 2023 in Willingen die 13. Bundesmigrationskonferenz der IG Metall statt. Hier findet Ihr die Dokumentation der Veranstaltung inklusive zweier Videos.

Warnstreikaktion in Berlin am 08.11.2022

Internationaler Tag der MigrantenAusstellungen zum Verleih

Die IG Metall ist eine vielfältige Organisation. Mit zwei Wanderausstellungen zum internationalen Tag der Migranten machen wir unsere historischen Errungenschaften und Erfolge sichtbar.

Flüchtende Ukrainerinnen und Ukrainer bei der Ankunft am Bahnhof in Lemberg

 WeltflüchtlingstagFaktenblatt Flucht und Asyl

Jedes Jahr am 20. Juni zum Weltflüchtlingstag veröffentlichen die Vereinten Nationen die neuesten Zahlen. Sie schätzen die Zahl der Schutzsuchenden in anderen europäischen Ländern aus der Ukraine auf über 4,8 Millionen. Im Faktenblatt findet Ihr die aktuellen Daten zum Thema Flucht und Asyl 2022.

Bundestagswahl 2021

 Polittalk zur BundestagswahlNeustart für eine solidarische Einwanderungsgesellschaft?

Im digitalen Polittalk diskutieren wir am 9. September, ob die Bundestagswahl einen Neustart für eine solidarische Einwanderungsgesellschaft bringt. Gemeinsam mit den Kollegen von Verdiwerden wir mit Bundestagsabgeordneten mehrerer Parteien über unsere Forderungen zur Bundestagswahl diskutieren.

Hauni in Hamburg: Die Beschäftigten gestalten ihre

 Flyer jetzt auch auf TschechischDu hast es in der Hand! Gewerkschaften und Betriebsräte in Deutschland

Wir stellen einen Flyer zur Mitgliederansprache nun auch in tschechischer und polnischer Sprache zur Verfügung. Der Flyer geht auf zentrale Fragen der Gewerkschafts- und Betriebsratsarbeit in Deutschland ein und zeigt den Unterschied zu Tschechien und Polen. Er eignet sich gut für den Erstkontakt.

Eine Studentin und ein Student gehen gemeinsam über einen Korridor in einem Universitätsgebäude.

 Integration im BetriebWELCOME für eine von Vielfalt geprägte Betriebspolitik

Das WELCOME-Projekt setzt auf die gestaltende Funktion von Personal- und Betriebsräten für ein gleichberechtigtes Zusammenarbeiten in divers aufgestellten Belegschaften. Das gemeinsame Projekt von IG Metall und Verdi zeigt, wie sie zu Profis werden können für Vielfalt im Betrieb.

Eine Gruppe von Menschen stapeln ihre Hände

 Material für die MitgliederwerbungVielfalt willkommen!

Damit die Information richtig ankommt: Für unsere Kolleginnen und Kollegen mit anderen Muttersprachen haben wir wichtige Broschüren in den meisten hierzuande gebräuchlichen Fremdsprachen erstellt. So kann bei einem Werbegespräch gezielt über die Leistungen der IG Metall informiert werden.

Schwerpunktthemen

Metall-News für...