Migration: Bernardino di Croce
„Ich vertrete die Arbeiter aus den Baracken“

Deutschland ist seit über 60 Jahren Einwanderungsland. Viele Menschen kamen mit Träumen von einem besseren Leben – nicht alle haben sich erfüllt. Trotzdem sind viele geblieben. Wie der Italiener Bernardino di Croce. Das IG Metall-Mitglied hat über sein Leben als Migrant ein Buch geschrieben.

3. November 20173. 11. 2017


Bernardino, Du bist 1960 mit knapp 17 Jahren mit Deinem Vater nach Deutschland gekommen. Warum?

Bernardino di Croce: In unserem Dorf in den Abruzzen gab es keine Arbeit. Die Menschen waren arm. In Deutschland gab es Arbeit. Darum versuchten viele, für ein paar Jahre hierher zu kommen und Geld zu verdienen, um ihre Familien zu unterstützen. Mein Vater auch. Wir waren eine achtköpfige Familie. Über Deutschland wurde in armen Regionen – damals schon wie heute noch – das Bild vermittelt: Das Land ist reich, hier gibt es gut bezahlte Arbeit – und hübsche Mädchen.

Und stimmte das?

Am Anfang war ich sehr enttäuscht. Schon am Tag nach der Ankunft war ich auf dem Bau. Wir mussten von sieben Uhr morgens bis sieben Uhr abends arbeiten. Mein Vater ließ mir fünf Mark Taschengeld pro Woche, das meiste Geld wurde nach Hause geschickt. Schlafen mussten wir in einer Baracke: zu acht in vier Etagenbetten in einem Zimmer zusammengepfercht.

Bernardino Di Croce

Foto: Bernardino Di Croce
 


Wart Ihr, wie die Geflüchteten heute, überwiegend (junge) Männer?

Ja, wir waren fast nur Männer. Und wir blieben unter uns. Die blonden deutschen Mädchen standen auch nicht unbedingt auf Italiener, wie die Italiener gerne in der Heimat erzählten.

Wie hast Du die Einheimischen erlebt?

Ich hatte das Gefühl, für die deutschen Arbeitskollegen sind wir Luft. Sie sprachen kaum mit uns, blieben in den Pausen unter sich. Und wenn, dann gab es oft Sprüche wie „Itaker“, „Spaghettifresser“, „Was habt ihr hier zu suchen?“. Aber es gab auch Deutsche, die ihren Schnaps mit uns teilten, wenn es kalt auf dem Bau war.

Du bist zuerst nur fünf Jahre geblieben.

Ja, ich war 1965 schon Vorarbeiter, hatte aber neue Pläne. Ich bin nach Kanada gezogen. Meine deutsche Freundin Hilde kam nach und wir haben geheiratet. In Kanada wurden auch meine beiden Kinder geboren. 1970 sind wir zurückgekehrt. Inzwischen war schon fast meine ganze italienische Familie in Deutschland. Dann kamen die 80er Jahre. Die Gastarbeiter wurden nicht mehr gebraucht und es herrschte ein sehr ausländerfeindliches Klima. Da bin ich mit meiner Familie nach Italien gezogen. Aber ich habe gemerkt: Das ist nicht mehr meine Heimat. Denn den größten Teil meiner persönlichen Geschichte habe ich in Deutschland erlebt. Und hier sind meine Kinder aufgewachsen, sie fühlen sich hier zu Hause.

Von Kanada wieder in Deutschland kamst Du nach Villingen zur IG Metall.

Ja, die IG Metall suchte Dolmetscher für ausländische Kollegen. Ich habe zuerst übersetzt, dann Seminare für Migranten geleitet. Schon bald sagten die Metaller: Wir brauchen dich. Komm zu uns. Ich sollte damals bei der Firma Binder Magnete eine IBM-Abteilung übernehmen, habe mich dann aber für die IG Metall entschieden. 1974 wurde ich Gewerkschaftssekretär in Stuttgart. Zuerst für Ausländer. Später war ich Stadtbezirkssekretär und Konfliktmanager und am Ende betreute ich Firmen, die sich in wirtschaftliche Schwierigkeiten befanden.

Welche Rolle spielte die Gewerkschaft für Dich als Migrant?

Eine wichtige. Ich bin schon 1961, mit 17 Jahren, in die IG BAU eingetreten, dann 1966, nachdem ich eine Schlosserlehre absolviert hatte, in die IG Metall. Wir Gastarbeiter wurden ausgebeutet, bekamen 20 bis 30 Prozent weniger Lohn als die Deutschen. Aber wir konnten uns kaum wehren. Weil wir kein Deutsch verstanden, kannten wir unsere Rechte nicht und hätten sie auch nicht artikulieren können. Und die Betriebe und überhaupt die deutsche Gesellschaft gab sich keine Mühe mit uns. Alle glaubten: Lohnt sich nicht, die bleiben ja eh nur ein paar Jahre. Wir haben in der IG Metall dann angefangen, Seminare zu veranstalten: in Italienisch, Türkisch und anderen Fremdsprachen. Ich habe viele Ausländer dazu gebracht, in die IG Metall einzutreten. Ich habe sie gefragt: Wollen wir Kollegen werden oder immer Gastarbeiter bleiben? Wenn wir uns nicht zusammentun, wird es uns nie besser gehen. Wenn jemand dann sagte: Du bist keiner von uns, du bist Vertreter einer deutschen Gewerkschaft, habe ich geantwortet: Ich bin der Vertreter der Leute aus den Baracken.

Du bist jetzt 57 Jahre in Deutschland. Was ist für Dich wichtig, wenn Integration von Migrantinnen und Migranten gelingen soll.

Die Italiener meiner oder späterer Generationen, die erreicht haben, was sie wollten und ihr Leben auch genießen können, sind gut integriert. Sie fühlen sich nicht minderwertig. Und das überträgt sich bei ihnen auf die nächste Generation. Man darf nicht in einem abgeschotteten Milieu bleiben, sondern muss sich mit Menschen aus anderen Gruppen austauschen. So lernt man, in einer zuerst fremden Gesellschaft gut zu leben. Dafür ist es natürlich wichtig, nicht nur Deutsch zu lernen, sondern auch, wie die deutsche Gesellschaft tickt. Ganz elementar sind natürlich Bildung und gute Arbeit. Wer auf Dauer benachteiligt ist, fühlt sich minderwertig. Und er lässt seinen Frust dann vielleicht auf eine Weise ab, die weder für ihn noch für die Gesellschaft gut ist. Man muss die Chance haben, sich zu entwickeln und seine Wünsche zu verwirklichen.

Gleichstellung und Integration - Migration
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