Bildungsgerechtigkeit
Warum es sich lohnt, in Bildung zu investieren

Das Versprechen vom Aufstieg durch Bildung bleibt gerade für Kinder aus bildungsfernen Familien oft unerreichbar. Viel zu stark hängt der Schulerfolg von Bildungsniveau und Einkommen der Eltern ab. Die anfängliche Ungleichheit verfestigt sich auf dem Lebensweg meist noch.

26. April 201826. 4. 2018


Doch, natürlich gibt es auch das: funkelnde Geschichten von Menschen, die, wie man gerne sagt, aus einfachen Verhältnissen stammen, aber trotzdem ihren Weg gemacht haben. Unaufhaltsam sind sie die Bildungsleiter hochgeklettert, Sprosse für Sprosse, haben Karriere gemacht, immerweiter, immermehr, bis sie oben angekommen sind. Plötzlich ist aus dem kleinen Jungen, der in einem Heim aufgewachsen ist, der mächtige Betriebsratsvorsitzende von Porsche geworden, aus dem Sohn eines Tischlers der derzeitige Bundespräsident. Und das kleine Mädchen, dessen Eltern einst als Handwerker aus der Türkei nach Deutschland kamen, moderiert heute die Tagesthemen.

Natürlich gibt es diese Menschen. Natürlich gibt es solche Aufstiegsgeschichten. Das Problem ist nur: Sie erzählen nichts über die Wirklichkeit. Die wird in diesem kalten, nüchternen Satz beschrieben: Kaum etwas beeinflusst den Bildungserfolg von Kindern und Jugendlichen in Deutschland so stark wie ihre soziale Herkunft. Was der Satz bedeutet? Er bedeutet schlicht und einfach und ungerecht, dass der Erfolg eben nicht allein vom Einzelnen abhängt, davon, ob er oder sie sich genug anstrengt, sondern zu einem Gutteil von Faktoren, die man selbst nicht beeinflussen kann: das Einkommen und das Bildungsniveau der Eltern. Die Wahrscheinlichkeit zum Beispiel, dass Schüler aus bildungsfernen Familien – bei gleicher Intelligenz – ein Gymnasium besuchen, ist hierzulande ungleich geringer als bei Akademikerkindern


Familiäre Unterstützung fehlt

Kinder von Maurern und Kassiererinnen machen nicht nur seltener Abitur, sie erhalten auch schlechtere Noten als der Nachwuchs von Rechtsanwälten Ärzten oder Lehrern. Migrantenkinder werden im deutschen Bildungssystem oft doppelt benachteiligt. Zum einen fehlt ihnen, wie den deutschen Kindern aus bildungsfernen Familien, oft familiäre Unterstützung. Zum anderen führen mangelnde Sprachkenntnisse eben häufig auch dazu, weiterführende Bildungsangebote nicht nutzen zu können

Sehr früh, das zeigen internationale Vergleichsstudien seit Jahren, werden in Deutschland die Weichen gestellt – und die anfängliche Ungleichheit verstärkt und verfestigt sich im weiteren Lebensweg. Denn was in der Schule beginnt, setzt sich etwa an der Universität dramatisch fort: Laut einer aktuellen Studie, dem „Hochschul-Bildungs-Report“ von 2017, beginnen 74 Prozent der Akademikerkinder ein Studium, hingegen nur 21 Prozent der Kinder aus nicht-akademischen Familien. Auch in der Arbeitswelt sind Bildungschancen ungerecht verteilt. Die meisten Angebote für eine Weiterbildung bekommen gut qualifizierte Beschäftigte, sie werden Akademikern, Fach- und Führungskräften gemacht.


Bildungsreformdebatte anstoßen

Frühkindliche Bildung, Schule, Ausbildung, Studium, Weiterbildung. All diese Stationen prägen den Werdegang eines Menschen. An ihnen entscheidet sich, welche Berufschancen jemand hat, wie groß die Karrierechancen sind, wie viel Geld verdient werden kann. Diese Faktoren haben direkten Einfluss auf die Gesundheit, letztlich auf die Lebenserwartung. Menschen mit ungünstigen wirtschaftlichen Lebensbedingungen, wie etwa eine Arbeit als Geringqualifizierter oder ein niedriges Bildungsniveau, leben im Schnitt 25 Monate kürzer als Menschen mit guten Voraussetzungen.

Wie groß die Chancen auf ein gesundes gutes Leben sind, hängt zu einem Großteil auch davon ab, wie gerecht oder ungerecht Chancen verteilt werden. Die Frage ist, wie es gelingen kann, dass Bildungskarrieren nicht von der sozialen Herkunft abhängen.


Chancen auf Bildung für alle Menschen verbessern

„Wir brauchen eine Bildungsreformdebattein Deutschland“, sagt Hans-Jürgen Urban, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall. „Es wird darum gehen, die Teilhabe und Chancen auf Bildung für alle Menschen zu verbessern.“ Damit dies gelingen kann, sind Anstrengungen auf allen Ebenen nötig: in der Schule, in den Berufsschulen, an den Hochschulen – und natürlich auch im Betrieb.


Zunächst einmal und ganz prinzipiell, geht es darum, den fortschreitenden Verfall von Schulgebäuden und Bildungsstätten zu stoppen. Marode Gebäude, unzumutbare sanitäre Anlagen, mangelnde technische Ausstattung – an vielen Schulen und Berufsschulen sieht es trist aus: Der Sanierungsstau, den die Kreditanstalt für Wiederaufbau für allgemeinbildende und berufliche Schulen auf 34 Milliarden Euro beziffert, verdeutlicht die Misere. Die IG Metall sieht hier dringenden Handlungsbedarf: Nötig ist ein Investitionsprogramm von Bund und Ländern. Für dessen Finanzierung müssen Vermögende und Unternehmeneinen gerechten Beitrag leisten. Denn nur eine solidarische Umverteilung kann letztlich für alle die gleichen Chancen zur gesellschaftlichen Teilhabe ermöglichen.

Eine gute Ausstattung allein schafft noch keine Bildungsgerechtigkeit. Elementar ist, dass in allen Bereichen des öffentlichen Lernens der zunehmenden Bildungsungleichheit entgegengewirkt wird. Ein modernes Schulsystemmuss deshalb längeres gemeinsames Lernen ermöglichen und den Lernerfolg aller Schüler im Blick haben. Das Rad braucht dafür nicht neu erfunden werden, nötig aber sind gezielte Unterstützung und Förderung.


Freier Zugang zu Bildung

In Duisburg etwa unterstützen Sozialarbeiter Pädagogen in Schulen in schwierigem Umfeld oder mit hohem Migrantenanteil. Es werden kleinere Klassen gebildet oder besondere Lernmittel eingesetzt. Außerdem bietet die Stadt an den Schulen Ganztags-, beziehungsweise Nachmittagsangebote mit pädagogischen Inhalten an. Die Teilnahme hieran ist allerdings freiwillig. „Schulen sind immer ein Spiegel ihres sozialen Umfelds“, sagt Reinhard Wolf vom Amt für Schulische Bildung in Duisburg. „Der Lernerfolg hängt immer auch mit vom Elternhaus ab, da unterscheidet sich Duisburg nicht von anderen Kommunen im Land.“

Ganz egal aber, ob Schüler, Auszubildender, Berufstätiger oder Student: Ein offener und freier Zugang zu Bildung und Weiterbildung ist eine gesellschaftliche Aufgabe, die von entscheidender Bedeutung ist. Die IG Metall fordert ein Bildungssystem, das den Menschen so lange wie möglich alle Wege offenhält, das durchlässiger wird und das mehr Qualität bietet. Genau aus diesem Grund muss eine höhere Qualität das Ziel der anstehenden Reform des Berufsbildungsgesetzes sein. Das Gesetz regelt in Deutschland die Berufsausbildung, Fortbildung und berufliche Umschulung. Entscheidend sind für die IG Metall Lehr- und Lernmittelfreiheit Qualifizierung des Ausbildungspersonals und klare, verbindliche Standards.


Zu wenig Lehrkräfte

Denn beim Substanzverfall hören die Probleme beispielsweise an den Berufsschulen längst nicht auf. Das erfährt auch Fabian Ferber von der IG Metall Märkischer Kreis immer wieder in Gesprächen. Auszubildende berichten von Lehrkräften ohne pädagogische Ausbildung und massivem Unterrichtsausfall. Eine aktuelle Studie legt dar, dass die berufsbildenden Schulen bis 2025 knapp 22 000 zusätzliche Lehrkräfte benötigen. Schon heute beklagen Schulleiter vielerorts einen akuten Personalmangel.

„Die Berufsschule ist viel zu lange stiefmütterlich behandeltworden“, sagt Jugendsekretär Ferber. Um die Qualität in der Ausbildung nachhaltig zu sichern, braucht es genug engagierte und gut ausgebildete Lehrer, die die Auszubildenden auch auf die Digitalisierung und den Wandel der Arbeitswelt, dermit ihr verbunden ist, vorbereiten können. Studiengänge für angehende Berufsschullehrer müssen attraktiver und praxisgerechter gestaltet werden. Dabei müssen die Gewerkschaften als Experten der Arbeitswelt beteiligt werden. Ein stärkerer Fokus auf Lernbegleitung und Medienkompetenz ist unerlässlich. Jugendsekretär Ferber betont: „Wenn der Mensch mit dem Wandel durch Digitalisierung Schritt halten soll, müssen die Berufsschulen der Schrittmacher sein.“

Wie das funktionieren kann, zeigt sich an der Carl-Benz-Schule im baden württembergischen Gaggenau. Dort lernen Auszubildende in einer modernen Lernfabrik die für Industrie 4.0 typische dezentrale Prozesssteuerung am Beispiel der Handyschalenproduktion. Die Lehrer stimmen den Unterricht auf die technische Entwicklung ab. Claudia Peter, Geschäftsführerin der IG Metall in Gaggenau, sagt: „Die Lernfabrik ist ein Erfolgsmodell. Das innovative Konzept gibt starke Impulse zur Qualitätssicherung der dualen Ausbildung.“


Förderung im Betrieb

Es kann viel getan werden, um Bildungschancen zu erhöhen. Und es wird einiges getan. In den Pfalz-Flugzeugwerken in Speyer (PFW) zum Beispiel. Dort, in der Ausbildungswerkstatt, hängt eine Urkunde. Sie gehört einemjungen Facharbeiter, der bei PFW eine Ausbildung zum Maschinen- und Anlagenführer gemacht und die Abschlussprüfung als deutschlandweit Bester seines Jahrgangs abgeschlossen hat. Dabei hatte die Perspektive des jungen Mannes nach der Schule noch ganz anders ausgesehen: arbeitslos, Hartz IV – ein Lebenswegwie in Betongegossen. Dass es anders kam, ist einem besonderen Förderprojekt zu verdanken.

Im Flugzeugwerk werden jedes Jahr 14 Jugendliche ausgebildet, die keinen oder einen schlechten Schulabschluss haben. Es sind junge Menschen, deren Familie von staatlicher Unterstützung lebt. Manche müssen sich erst an Regeln gewöhnen, zum Beispiel zu einer bestimmten Zeit aufzustehen. Sie müssen lernen, dass zum Berufsleben ein bestimmter Tagesrhythmus gehört. Und soziales Verhalten, zum Beispiel, dass Konflikte sachlich gelöst werden können. Die Jugendlichen absolvieren eine normale Ausbildung. Aber ihnen stehen eine Sozialpädagogin und engagierte Ausbilder von PFW zur Seite, die sich intensiv um sie kümmern und sie in Themen, in denen sie schwächer als andere Azubis sind, stärker fördern. Finanziert wird das Projekt von der Arbeitsagentur.


„Jeder kann gute Facharbeit lernen“

Wer Unterstützungbraucht, findet sie auch in der „Assistierten Ausbildung“ und den „ausbildungsbegleitenden Hilfen“ der Arbeitsagenturen. So bekommen mehr Betriebe die Möglichkeit, Jugendlichen mit Förderbedarf eine Chance zu geben. Die IG Metall hat sich in der Allianz für Aus und Weiterbildung für die Unterstützungsmöglichkeiten stark gemacht.

Und Förderung lohnt sich. Nur sehr wenige Jugendliche verlassen das Programm der Pfalz-Flugzeugwerke. Aber die, die bleiben, schaffen die Ausbildung so gut wie immer. Und finden danach Arbeit. Nicht immer sofort als Festangestellte bei PFW. Aber viele nach ein paar Jahren. „Sie bilden das Rückgrat unserer Fertigung. Es sind prima Handwerker“, sagt Werner Rieder, der Betriebsratsvorsitzende von PFW. Im Flugzeugwerk in Speyer gab es schon immer Förderprogramme für Lernschwache und Arbeitslose. Rieder ist fest überzeugt: „Jeder kann gute Facharbeit lernen – wenn man ihn fördert.“

 

 

 

 

Zukunft der Arbeit - Bildung und Qualifizierung

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