Migration
„Deutschland ist ein Einwanderungsland“

Migration prägt die Vielfalt in Deutschland.

23. März 201623. 3. 2016


Du bist 1970 als Siebenjähriger mit Deinen Eltern nach Deutschland gekommen. Wie hast Du Integration damals erlebt?

Lümali: Ich musste mir alles hart erarbeiten. Dabei habe ich erfahren, dass man als Migrant doppelt so viel leisten muss, um positiv aufzufallen.

Das Diversity Management, also Chancengleichheit für alle Mitarbeiterm ist bei Daimler inzwischen gut etabliert. Gleichwohl ändern sich die Herausforderungen. Werden für neue Entwicklungen wie beispielsweise eine steigende Zahl an Flüchtlingen neue Ansätze benötigt?

Perspektivisch gehe ich davon aus. Denn mit Fragen wie der Duldung und dem Arbeitsmarktzugang für Flüchtlinge haben wir in der aktuellen Dimension noch keine Erfahrung gesammelt. Vor allem aber dürfen wir die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen.

Welche Fehler?

Die Fehler, die die erste Migranten-Generation in den 1960er Jahren ausbaden musste. Wir müssen uns dieses Mal von Anfang an darüber im Klaren sein, dass hier nicht nur Arbeitskräfte kommen, sondern Menschen. Wir müssen uns daher auch um ihre Integration kümmern, etwa durch Sprachförderung, die Vermeidung von Ghettos und die Erziehung der Kinder. Kinder mit einem nicht europäisch klingenden Namen müssen die gleichen Zugangschancen zu Ausbildungs- und Arbeitsplätzen haben.

Am Standort Sindelfingen arbeiten Menschen aus über 80 Nationen. Wie wird Vielfalt dort gelebt?

In meinen Reden sage ich oft, dass Sindelfingen ein sehr gutes Beispiel für die gelebte Vielfalt ist. Ich bin seit 36 Jahren im Unternehmen und heute Betriebsratsvorsitzender. Beim Stadtfest in Sindelfingen treffen sich unterschiedliche Beschäftigtengruppen, um gemeinsam zu feiern. Sichtbar wird sie auch, wenn es um muslimische Feiertage geht und sich die Kolleginnen und Kollegen mit und ohne Migrationshintergrund über Freischichten und Urlaub abstimmen. Natürlich gibt es auch bei uns hier und da Vorbehalte gegen Migranten und Migrantinnen. Mein Eindruck ist aber, dass die Vielfalt bei uns wesentlich verbindlicher und leichter gelebt wird als im Alltag außerhalb des Unternehmens.

Kannst Du Dich als Migrant dem Thema Vielfalt leichter öffnen als Deine Kolleginnen und Kollegen ohne Migrationshintergrund?

Im Gegenteil. Manchmal bleiben sie ganz entspannt, wenn ich bereits glaube, über das eigentliche Ziel hinauszuschießen. Ein Beispiel ist die Auswahl der Vertrauensleute. Da sich im Produktionsbereich überproportional viele Menschen mit Migra tionshintergrund aktiv politisch betätigen, ist ihr Anteil unter den Vertrauensleuten sehr viel höher als ihr Anteil an der Belegschaft. Meine Bedenken, dass die Vertretungsvollmacht darunter leiden könnte, teilen meine deutschstämmigen Kollegen und Kolleginnen aber nicht.

Gibt es Vielfaltsthemen, denen der Betriebsrat mehr Aufmerksamkeit schenken könnte?

Ich bekomme Anfragen von homosexuellen Menschen, die beklagen, dass ihre Anliegen nicht die gleiche Öffentlichkeit erfahren wie die der Frauen und Migranten. Tatsächlich wurde sich diesem Thema in der Vergangenheit noch nicht so intensiv gewidmet wie den anderen.

Welche Aufgabe fällt der IG Metall beim Thema Vielfalt zu?

Die IG Metall spielt dabei eine ganz wichtige Rolle, da sie dieses Thema aufgrund ihrer Stärke auch auf eine partei- und gesellschaftspolitische Ebene heben kann. Ich weiß, dass viele Migrantinnen und Migranten in der IG Metall einen Hafen sehen, der ihnen den Platz bietet, ihre Probleme und Lösungsvorschläge einzubringen.

Welche Vielfaltsthemen haben aus migrationspolitischer Sicht für Dich die größte Bedeutung?

Deutschland ist ein Einwanderungsland und braucht unabhängig von der aktuellen Situation angesichts der niedrigen Geburtenrate ein Einwanderungsgesetz und damit klare Regeln für die Zuwanderung von Fachkräften. Aber es bedarf noch sehr vieler Diskussionen, wie ein solches Gesetz aussehen muss. Wichtig ist, dass die Bevölkerung es akzeptiert.

Welche weiteren Themen stehen ganz oben auf Deiner Agenda?

Die doppelte Staatbürgerschaft. Als ich die deutsche Staatsbürgerschaft annahm, musste ich meinen türkischen Pass abgeben. Warum? Welchen Vorteil hat Deutschland davon, dass ich diesen Pass nicht mehr habe? Das ergibt keinen Sinn und ist überhaupt nicht schlüssig. In Deutschland geborene Kinder türkischer Eltern dürfen inzwischen ja beide Pässe besitzen. Und EU-Bürgerinnen und Bürger sowieso. Vor diesem Hintergrund sollte auch das Wahlrecht geändert werden. Es müssen auch die Menschen wählen können, die seit vielen Jahren in Deutschland arbeiten und leben, aber ihren ersten Pass nicht abgeben wollen. Sonst werden sie sich in diesem Land weniger engagieren. Aber genau das ist eine Voraussetzung für erfolgreiche Integration. Wenn wir hier nichts tun, dann dürfen wir uns über zunehmende Politikverdrossenheit nicht wundern.
 

Ergun Lümali wurde 1962 in der Türkei geboren und kam 1970 nach Deutschland. Schon seine Berufsausbildung zum Konstruktionsmechaniker absolvierte er im Werk Sindelfingen der Daimler AG. Für die IG Metall engagierte er sich zunächst als Vertrauensmann. 1994 wurde er in den Betriebsrat gewählt und 2014 zu dessen Vorsitzenden sowie zum stellvertretenden Vorsitzenden des Gesamtbetriebsrats. Seit 2010 ist er Vorstandsmitglied der IG Metall.

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