Weite Teile Deutschlands liegen noch in Trümmern, als die Delegierten im September 1950 zum ersten Ordentlichen Gewerkschaftstag der IG Metall in Hamburg zusammenkommen. Seit nur einem Jahr existiert die Industriegewerkschaft für das ganze Bundesgebiet. Doch sie hat bereits harte Kämpfe hinter sich.
Ständiges Streitthema der Nachkriegszeit sind die Demontagen von Industrieanlagen. Die IG Metall protestiert. Schließlich sollen die Beschäftigten vielerorts den eigenen Arbeitsplatz demontieren. Außerdem erschweren die Demontagen den Wiederaufbau. Gegen die Anordnungen der Besatzungsmächte sind die Metallerinnen und Metaller aber oft machtlos.
Beim ersten Gewerkschaftstag steht ein anderes, nicht weniger umstrittenes Thema im Fokus: der Kampf um die Mitbestimmung im Bergbau und in der Stahlindustrie. Ziel der IG Metall: eine paritätische Mitbestimmung in den Betrieben. Mit einer Urabstimmung baut die Gewerkschaft im November 1950 erfolgreich Druck auf. Seit 1951 ist die paritätische Mitbestimmung in der Montanindustrie Gesetz.
Abtransport von Reparationsgütern aus dem unterirdischen Flugzeugmotorenwerk von Daimler-Benz in Obrigheim, Januar 1946
Beim 3. Ordentlichen Gewerkschaftstag, im September 1954 in Hannover, geht es weniger um grundsätzliche Fragen der Wirtschaftsordnung. Motto der Metaller ist: „Wir kämpfen für einen höheren Lebensstandard“. Im Jahr 1953 besitzen nur neun Prozent der bundesdeutschen Haushalte einen Kühlschrank; nur in jedem vierten Haushalt gibt es einen Staubsauger.
Dass die Profite der Wirtschaftswunderjahre dann auch zu steigendem Wohlstand der Bevölkerung führen, liegt nicht zuletzt an der IG Metall. Zwischen 1950 und 1960 verdoppeln sich die tariflichen Stundenlöhne in den Branchen. Dazu kommt die schrittweise Verkürzung der Arbeitszeit von 48 auf 44 Stunden bei vollem Lohnausgleich. Und nach dem längsten Streik in der Geschichte der Bundesrepublik setzt die IG Metall die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall durch.
Oft verstehen sich die Delegierten auf den Gewerkschaftstagen als Treiber des Fortschritts, manchmal sind sie ihrer Zeit weit voraus. Beispiel: der 5. Ordentliche Gewerkschaftstag 1958. Damals fordert die IG Metall Gleichberechtigung für Frauen; Schlagwort: „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ – in einer Zeit, in der weite Teile der Bevölkerung immer noch dem Ideal der Hausfrau und Mutter anhängen.
Beim Gewerkschaftstag 1977 bestimmen erneut aktuelle Probleme die Agenda der Delegierten. Nach Jahren der Vollbeschäftigung trifft die Ölpreiskrise die deutsche Industrie. Die Zahl der Erwerbslosen steigt von rund 150.000 im Jahr 1970 auf fast eine Million im Jahr 1978. „Gemeinsam für Vollbeschäftigung“, schickt die IG Metall deshalb als Botschaft an Politik und Arbeitgeber.
Der Kampf um Arbeitsplätze begleitet die IG Metall auch in den Folgejahren. Beim 1983er Gewerkschaftstag lautet das Motto „Durch Reform aus der Krise – Arbeit für alle.“ Damals liegt die Zahl der Erwerbslosen bei über 2,2 Millionen. Antwort der IG Metall: Die Arbeit muss gerechter verteilt werden. Die Forderung führt zu den harten - und letztlich erfolgreichen – Arbeitskämpfen um die Einführung der 35-Stunden-Woche.
Streik der Metallarbeiter bei Opel in Rüsselsheim 1985
1992 folgt der erste gesamtdeutsche Gewerkschaftstag, mit rund 240 Delegierten aus den neuen Bundesländern. Klaus Zwickel, damals Zweiter Vorsitzender, beschreibt den historischen Moment so: „Die Menschen in der DDR haben das fast unmöglich Geglaubte möglich gemacht. Nach über 40-jähriger Trennung sind wir nun nicht nur in einem Staat, sondern in einer Organisation, in unserer IG Metall, vereint.“
Zwickel wendet sich auch den dunklen Seiten der Wiedervereinigung zu: Dem radikalen Abbau der ostdeutschen Industrie sowie der Erwerbslosigkeit. Die Menschen in den neuen Bundesländen spürten „mit aller Wucht die Gnadenlosigkeit der einfachen Gewinnrechnung“. Zwickels Antwort: „Unsere Erfahrungen lehren uns, dass durch Einigkeit und Entschlossenheit im Handeln einst verweigerte Rechte und soziale Sicherungen errungen werden konnten.“
„Aufbruch ins neue Jahrtausend“ titelt die IG Metall beim Gewerkschaftstag 1999 – und verordnet sich selbst einen Aufbruch: Die Delegierten beschließen eine Frauenquote. Sie schreibt vor, dass Frauen in den Organen und Gremien der IG Metall mindestens entsprechend ihrem Anteil an der Mitgliedschaft vertreten sein müssen.
2003 treiben die sozialen Einschnitte der „Agenda 2010“ vielen Delegierten die Zornesröte ins Gesicht. Das Reformpaket der rot-grünen Bundesregierung ist zentraler Kritikpunkt in Reden und Debattenbeiträgen. Vorwurf der IG Metall: Mit einem neoliberalen Reformprogramm hat sich die Regierung einer sozialpolitisch verantwortungslosen und wirtschaftspolitisch unsinnigen Politik verschrieben.
Beim Gewerkschaftstag 2007 in Leipzig ist neben der Tarifpolitik und der Humanisierung der Arbeit das Thema Leiharbeit bestimmend. Beim Ordentlichen Gewerkschaftstag 2011 setzt die IG Metall ihre Kampagne für faire Leiharbeit fort - und startet eine Neue: für einen fairen Übergang in die Rente.
Auch in den Debatten des 23. Ordentlichen Gewerkschaftstag spiegeln sich 2015 die großen Fragen der Gegenwart: Wie wollen wir leben und arbeiten? Was ist gerecht? Wie lässt sich das Rentensystem so aufbauen, dass es auch in einer rasant alternden Gesellschaft funktioniert? Wie gehen wir mit der Beschleunigung des Arbeitslebens um? Wie lassen sich Familie und Beruf unter einen Hut bringen?
Fotoaktion zum Thema Arbeitszeit beim 23. Ordentlichen Gewerkschaftstag 2015
Daraufhin packt die IG Metall das Thema Arbeitszeit in der Tarifrunde 2018 erneut an. Um die Forderungen der Beaschäftigten durchzusetzen, kommen erstmals sogenannte 24-Stunden-Warnstreiks zum Einsatz. Dieses neue Arbeitskampfinstrument hatte der 23. Ordentliche Gewerkschaftstag gefordert. Auch Dank der hohen Beteiligung an diesen Warnstreiks wird die Tarifrunde zu einer bemerkenswerten: Kurz darauf können Beschäftigte in der Metall- und Elektroindustrie stärker selbst über ihre Arbeitszeit bestimmen. Sie haben fortan die Wahl, ihre Arbeitszeit zeitweise auf verkürzte Vollzeit zu reduzieren - bis auf 28 Stunden. Wer Kinder erzieht, Angehörige pflegt oder Schicht arbeitet, kann außerdem zusätzliche acht Tage im Jahr freinehmen.
Die IG Metall gibt Antworten – damals wie heute.