Christopher Lemoine ist ständig unterwegs – und meist auf sich allein gestellt: Als Servicetechniker beim Flurförderfahrzeugbauer und Intralogistikanbieter STILL wartet und repariert er Gabelstapler, die in der Industrie und anderen Betrieben im Einsatz sind. Von der STILL-Niederlassung Fürth/Nürnberg aus deckt er mit seinen Kolleginnen und Kollegen die komplette nördliche Hälfte von Bayern ab. Das bedeutet – je nach Wohnort und Einsatz – viel Zeit im Auto.
Das Auto ist auch sein Büro: In den letzten Jahren mussten die Sevicetechniker wie viele andere Beschäftigte im Außendienst immer mehr administrative Arbeit übernehmen. Christopher führt im Auto Telefonate und Videokonferenzen.
Bei Christopher kommt noch eine besondere Anforderung dazu: Er ist Betriebsrat (BR). Oft berät er vom Auto aus Kolleginnen und Kollegen, hilft ihnen weiter oder nimmt ihre Fragen mit, um sie später von der Niederlassung oder von zuhause aus in Ruhe zu klären.
„Es gibt Tage, an denen ich diverse Betriebsratstermine von unterwegs aus dem Auto erledige und meine Arbeit beim Kunden unterbreche“, berichtet Christopher. „Wenn ich weiß, es sind am Stück mehrere BR-Termine, dann versuche ich diese von der Niederlassung oder von zu Hause aus zu machen und davor oder danach zum Kunden zu fahren. Schwierig wird es dann, wenn Dich beim Kunden noch Kollegeninnen und Kollegen anrufen und ein Anliegen haben.“
Eigentlich soll Betriebsratsarbeit während der Arbeitszeit stattfinden. Doch Christopher kann seine Servicearbeit beim Kunden nicht einfach liegen lassen, auch wenn er an dem Tag viel Betriebsratsarbeit hatte.
Christopher Lemoine wartet und repariert STILL-Flurförderfahrzeuge direkt in den Kundenbetrieben.
„Wenn ich Chris zu Terminen einlade, habe ich auch immer ein Stück weit ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht weiß, in welcher Situation er ist“, meint Thomas Dresler, Christophers Betriebsratsvorsitzender bei STILL Bayern, der in der Hauptniederlassung München arbeitet – oft auch mobil. „In einem normalen Betrieb kannst Du Dich bei Deiner Führungskraft abmelden – und es ist klar: Du machst jetzt erst mal Betriebsratsarbeit. Doch Chris hat immer den Kunden im Hintergrund, der seinen Techniker will.“
In den Medien wird oft über „mächtige“ Betriebsräte in großen Industriebetrieben berichtet, die so viel verdienen wie Manager. Doch die Realität der großen Mehrheit der Betriebsräte sieht anders aus. Christopher wird nicht besser bezahlt als seine Kollegen. Im Gegenteil: Viele sehen ein Betriebsratsmandat eher als Hindernis für die Karriere.
„Wenn Du dann als Techniker weniger zur Verfügung stehst, kannst Du die anspruchsvolleren Aufträge bei Kunden nicht machen – vor allem nicht die Jobs, wo Du schnell reagieren musst“, erklärt Christopher Lemoine. „Ich habe da auch schon einiges abgegeben.“
Das Ergebnis: Auch wenn die Betriebsratsarbeit Betriebsräten wie Christopher viel zurückgibt – er entwickelt spezielles Wissen und Führungskompetenzen – und damit auch ein Gewinn für das Unternehmen und die Beschäftigten ist, laufen Betriebsräte in Gefahr, auf Dauer weniger Geld als ihre Kolleginnen und Kollegen zu haben.
Das gilt auch für von der Arbeit freigestellte Betriebsräte, wie den Betriebsratsvorsitzenden Thomas Dresler, der seit 2017 ausschließlich Betriebsratsarbeit macht. Davor arbeitete der gelernte Mechatroniker zunächst als Servicetechniker und danach im Vertrieb im Außendienst. Ein Großteil seiner Bezahlung bestand aus Provisionen für seine Verkäufe. Bei Thomas Dresler hat der Betriebsrat zwar erreicht, dass ein durchschnittlicher Provisionsanteil „tarifdynamisiert“ wurde. Das heißt, dass seine durchschnittliche frühere Provision fester Entgeltbestandteil wird und mit Tariferhöhungen mitwächst. Doch eine zu 100 Prozent transparente Entgeltentwicklung, vergleichbar mit der seiner Kollegen im Vertrieb, ist nicht sichergestellt.
Eigentlich heißt es ja im Betriebsverfassungsgesetz Paragraf 37: „Mitglieder des Betriebsrats sind von ihrer beruflichen Tätigkeit ohne Minderung des Arbeitsentgelts zu befreien“ und „Das Arbeitsentgelt von Mitgliedern des Betriebsrats darf […] nicht geringer bemessen werden als das Arbeitsentgelt vergleichbarer Arbeitnehmer mit betriebsüblicher beruflicher Entwicklung.“
Doch was sind „vergleichbare Arbeitnehmer“ und eine „betriebsübliche berufliche Entwicklung“? In der Praxis gibt es darüber immer wieder Streit. Oft ist gar kein „vergleichbarer Arbeitnehmer“ mit „betriebsüblicher Entwicklung“ im Betrieb. Und was ist mit den ganzen Qualifikationen, die Betriebsräte in ihrer Tätigkeit erwerben, etwa durch IG Metall-Schulungen in Arbeitsrecht und Wirtschaft – und der Verantwortung für das Unternehmen und die Beschäftigten, die sie tragen, etwa in Verhandlungen mit dem Arbeitgeber?
Anfang des Jahres hat nun ein Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) – eigentlich nicht zuständig für Arbeitsrecht – zu Betriebsratsvergütungen bei VW für noch mehr Unruhe gesorgt. Seitdem versuchen zahlreiche Arbeitgeber, ihren Betriebsräten teils drastisch ihr Gehalt zu kürzen. Es läuft mittlerweile eine zweistellige Anzahl von Vergütungsklagen.
Thomas Dresler ärgert das. Noch mehr Nachteile – obwohl die Anforderungen an Betriebsratsarbeit in den letzten Jahren immer mehr gestiegen sind, etwa durch immer mehr Restrukturierungen in den Unternehmen und die Digitalisierung. Er sieht die Gefahr, dass Beschäftigte nicht mehr für den Betriebsrat kandidieren und erst recht nicht mehr in die Freistellung gehen wollen, insbesondere in Unternehmen mit hohem Außendienstanteil. Aus seiner Sicht braucht es hier eine Nachbesserung durch den Gesetzgeber, berichtet Thomas Dresler. „Ich habe dazu schon mit Bundestagsabgeordneten gesprochen.“
Thomas Dresler, Betriebsratsvorsitzender STILL Bayern in der mobilen Arbeit.
Die IG Metall und der DGB machen nun Druck für eine rechtsichere Gesetzeslage für Betriebsrate. Das Arbeitsministerium (BMAS) hat Experten mit Reformvorschlägen beauftragt. Erste Entscheidungen an Arbeitsgerichten in Bremen und Braunschweig zeigen zudem, dass die Gehaltskürzungen gegen Betriebsräte zu Unrecht erfolgt sind und der BGH die Rechtslage wohl fehlerhaft beurteil hat.
Christopher wusste, dass es schwierig werden wird, als ihn vor zehn Jahren sein ehemaliger Betriebsratsvorsitzender ansprach. Auch wenn die Betriebsratsarbeit damals noch nicht so komplex war wie heute.
Aber Chris hat trotzdem für den Betriebsrat kandidiert. Er hat sich schon immer sozial engagiert. „Ich mache das, weil es wichtig ist, dass wir uns als Beschäftigte beteiligen, mitbestimmen und mitgestalten können. Die Tarifverträge, die Gesetze – die gilt es ja auch umzusetzen und zu verteidigen. Wenn wir das als Beschäftigte nicht selbst machen, wer denn dann?“
Deshalb investieren Christopher, Thomas und die anderen Betriebsräte bei STILL Bayern auch viel Zeit und Energie, um Kandidatinnen und Kandidaten für den Betriebsrat und für die aktive Mitarbeit, etwa als IG Metall-Vertrauensleute zu gewinnen. Sie sprechen Beschäftigte an. Und seit einigen Jahren fahren sie mit Interessierten auf Wochenendtagungen. Bei der nächsten im November sind wieder 23 Interessierte dabei. Dort diskutieren sie Probleme und arbeiten ganz konkrete Lösungen aus.
„Wir fragen: Was nervt Euch? Was geht besser? Haben die Führungskräfte Lösungen dafür? Was habt Ihr für alternative Ideen?“, erklärt Thomas Dresler „Dann schauen wir gemeinsam ins Betriebsverfassungsgesetz und lassen die Leute selbst Handlungsoption ausarbeiten.“
Und immer wieder können sie so Beschäftigte für die Betriebsratsarbeit begeistern: Bei den letzten beiden Betriebsratswahlen hatten sie immer doppelt so viele Kandidatinnen und Kandidaten wie zu wählende Betriebsratsmandate.
„So ist eine breite demokratische Basis gegeben“, findet Thomas Dresler. „Am Ende ist das auch nur gut und sinnvoll: Denn unabhängig von der Problematik in der Bezahlung und Entwicklung der Betriebsräte, die dringend gelöst werden muss, gibt einem die Arbeit im Betriebsrat mehr als nur das Entgelt zurück: Solidarität, persönliche Entwicklung, Einfluss nehmen und nicht nur in der eigenen arbeitsvertraglichen Tätigkeit unterwegs zu sein, ist ein Wert für sich, den wir Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wertschätzen sollten.“