19. Januar 2018
Demonstration
„Die Region steht zusammen“
Rund 7.000 Menschen kommen in Görlitz zu einer Großkundgebung in der Innenstadt zusammen.

Selbstverständlich ist er mit dabei, selbstverständlich sind seine Kolleginnen und Kollegen dabei: „Wir kämpfen für unsere Arbeitsplätze, wir kämpfen für den Erhalte unseres Standortes“, sagt Ronny Zieschank, stellvertretender Betriebsratsvorsitzender des Siemens-Turbinenwerks in Görlitz. Selbstverständlich sind wir heute alle hier draußen auf der Straße. Es ist an der Zeit, ein Zeichen zu setzen und Bombardier einen Warnschuss zu verpassen„, sagt René Straube, Betriebsratsvorsitzender von Bombardier Görlitz.


Nicht selbstverständlich, dafür umso schöner, dafür umso beeindruckender und ermutigender ist das, was Ronny Zieschank, René Straube und seine Kollegen jetzt erleben. Eine Welle der Solidarität, eine ganze Stadt, die sich auf ihre Seite gestellt haben, hunderte Menschen aus Görlitz und der Umgebung, die heute hierher in die Innenstadt, auf den historischen Obermarkt gekommen sind: Mehr als 7.000 Menschen setzen an diesem Nachmittag in Görlitz gemeinsam ein Zeichen. Für die Sicherung von Arbeitsplätzen. Für den Erhalt des Industriestandortes Görlitz. Für die Zukunft der ganzen Region Ostsachsen.


Die ist gefährdet. Und mit ihr die Existenz tausender Familien in Görlitz und der unmittelbaren Umgebung – denn die Beschäftigten von Siemens befinden sich seit Ende November in einer unzumutbaren Situation: Wegen Problemen in der Kraftwerks- und in der Antriebssparte hat Siemens angekündigt, weltweit rund 6900 Arbeitsplätze zu streichen, davon etwa die Hälfte in Deutschland. Den Osten Deutschlands treffen Standortschließungen und Stellenabbau in hohem Maße: Das Siemenswerk in Leipzig mit 270 Beschäftigten soll geschlossen werden, im Berliner Gasturbinenwerk will der Konzern 300 Arbeitsplätze abbauen. Das Turbinenwerk in Görlitz soll trotz guter Auftragslage bis 2023 komplett geschlossen werden. „Das ist eine schlimme Situation“, sagt Ronny Zieschank. „Wir werden um unsere Arbeitsplätze kämpfen.“


Unzumutbar ist die derzeitige Situation allerdings nicht nur für die Siemens-Beschäftigten in Görlitz. Unzumutbar ist sie auch für die Kolleginnen und Kollegen von Bombardier und vom Waggonbau Niesky. Bei Bombardier besteht die Gefahr, dass lediglich eine kleine Stammbelegschaft von rund 700 Beschäftigten bleibt. Mit einer so kleinen Belegschaft ist ein Vollbahnhersteller nicht überlebensfähig. Außerdem bekamen die Beschäftigten vom Waggonbau Niesky Anfang Januar die Hiobsbotschaft, dass die Geschäftsführung ein Insolvenzverfahren beantragt hat. Der derzeitige Gesellschafter Quantum sieht sich nicht in der Lage, den Verlust aus dem letzten Geschäftsjahr auszugleichen. „Die Menschen wollen mit ihren Familien auch in Zukunft hier leben können“, sagt Jan Otto, Erster Bevollmächtigter der IG Metall Ostsachsen. Die industriellen Arbeitsplätze seien hochtarifiert, der einzige Anker in der unmittelbaren Umgebung. „Die Abbaupläne gehen uns alle an“, sagt Jan Otto, an jedem Industriearbeitsplatz hängen drei bis vier weitere Arbeitsplätze.


Das weiß man in Görlitz, und das zeigt sich eindrucksvoll in Görlitz. Eine ganze Stadt ist auf den Beinen, die Einwohner zeigen Solidarität: Punkt 13 Uhr startete ein erster Demonstrationszug vor dem Werkstor von Siemens und zeitgleich ein zweiter vor dem Bombardier-Werkstor. Von da aus ging es zum Brautwiesenplatz, dort wurden die beiden Demonstrationszüge zusammengeführt. Der Zug endete auf dem Obermarkt in der Innenstadt, wo ab 14 Uhr eine Großkundgebung stattfand – als Zeichen der Solidarität schlossen viele Einzelhändler in der Innenstadt für eine Stunde ihre Geschäfte. „Wir stehen heute hier, weil wir für eine konstruktive und belastbare Zukunft gemeinsam mit der Region kämpfen wollen und weil wir zeigen, dass Ostsachsen hochsolidarisch ist„, sagt Jan Otto. Auch aus dem Kanzleramt habe es solidarische Grüße gegeben. Die Bundeskanzlerin konnte leider nicht an unserer Demonstration teilnehmen, aber im Telefonat mit dem Kanzleramt wurde klar, dass die Kanzlerin unser Thema voll im Blick hat und mit den Unternehmensvorständen nach konstruktiven Lösungen sucht – es wurden auch regelmäßige Updates vereinbart.“


Seit Mitte Januar gibt es bei Siemens zudem zwischen der Arbeitnehmer- und der Arbeitgeberseite Sondierungsgespräch. Für die Arbeitnehmerseite und die IG Metall ist klar, dass es sich um ergebnisoffene Gespräche handelt – es sind keine Verhandlungen. „Wir verhandeln nicht über die Schließungspläne des Vorstands, sondern es geht um alternative Lösungen“, sagt Jürgen Kerner, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall und Siemens-Aufsichtsrat. Zwar sei unbestritten, dass die Nachfrage an großen Turbinen zurückgeht. Das jedoch sei keine neue Erkenntnis. „Wir fordern seit zwei Jahren, dass neue Kompetenzen angesiedelt werden“, sagt Jürgen Kerner. Bislang allerdings sei nichts passiert. „Unsere Haltung ist klar: Eine Neuausrichtung bei einem Unternehmen mit hervorragenden Zahlen ist in Ordnung, aber wir akzeptieren keine Standortschließungen und Kündigungen.“


Kündigungen und Standortschließungen will auch Jan Otto von der IG Metall Ostsachsen nicht akzeptieren. Gemeinsam mit den Beschäftigten will er dagegen kämpfen. „Die IG Metall hat die Beschäftigten in die Pflicht genommen, gemeinsam wollen wir mutig in die Zukunft schauen. Für diesen neuen Mut braucht es eine belastbare Basis und gute Arbeitsplätze“, sagt er. „Wir haben eine Vision für die Zukunft der Region und wollen gemeinsam mit den Menschen der Region ein deutliches Signal senden. Ostsachsen wird zusammenstehen.“


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