Ein Großteil der Beschäftigten in Deutschland arbeitet auch dann, wenn sie krank sind. Zu diesem Ergebnis kommt eine neue, repräsentative Studie des DGB-Index Gute Arbeit. 63 Prozent der befragten Beschäftigten gaben demnach an, im vergangenen Jahr trotz Erkrankung mindestens einen Tag lang gearbeitet zu haben. 44 Prozent sagten, sie hätten sogar eine Woche oder länger krank gearbeitet.
Die DGB-Zahlen belegen damit den eklatant hohen Anteil der Beschäftigten, die im vergangenen Jahr trotz Krankheit gearbeitet haben. Sie zeigen zudem einen deutlichen Anstieg der Zahlen nach dem Ende der Corona-Pandemie: Dem DGB zufolge hat damit der sogenannte Präsentismus – die Tatsache also, dass Beschäftigte trotz Krankheit arbeiten – in den vergangenen drei Jahren stark zugenommen. 2021, auf dem Höhepunkt der Corona Pandemie, hatten nur 48 Prozent der Befragten angegeben, mindestens einen Tag krank bei der Arbeit gewesen zu sein. Im Jahr 2024 liegt der Präsentismus wieder auf dem Niveau von 2019.
Die Untersuchung befeuert die Debatte über den Krankenstand in Deutschland. Erst im Januar hatte Allianz-Chef Oliver Bäte gefordert, den Karenztag wieder einzuführen. Beschäftigte sollten demnach für den ersten Tag der Krankmeldung keinen Lohn erhalten.
Die These, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland sich oft ohne triftigen Grund krankmelden ist nicht neu. Schon früher wurde von Arbeitgeberseite die Begründetheit von Krankmeldungen angezweifelt. Neu ist jedoch, dass die Diskussion aktuell an Schärfe zunimmt. Das hat auch mit der bevorstehenden Bundestagswahl zu tun. Es ist und bleibt allerdings grundfalsch.
„Der Vorwurf der Krankmacherei von Beschäftigten verstellt den Blick darauf, wie die Realität in der Arbeitswelt aussieht: Gerade wo schlechte Arbeitsbedingungen die Gesundheit der Beschäftigten gefährden, gehen diese häufiger trotz Krankheit zur Arbeit. Das zeigt die Sonderauswertung des DGB Index Gute Arbeit“, sagt Hans-Jürgen Urban, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall. „Um es nochmal klar zu sagen: Wer krank zu Hause bleibt, handelt solidarisch – bei ansteckenden Erkrankungen gerade auch mit Blick auf die eigenen Kolleginnen und Kollegen.“
Die DGB-Zahlen zeigen klar: Die Entscheidung, trotz Krankheit zu arbeiten, steht in engem Zusammenhang zu den Arbeitsbedingungen: Hohe Arbeitsbelastungen, eine schlechte Betriebskultur sowie große Sorgen vor dem Verlust des Arbeitsplatzes sind mit häufigerem Präsentismus bei den Betroffenen verbunden.
Generell gilt: Je höher die Arbeitsbelastung, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass Beschäftigte krank zur Arbeit gehen. Exemplarisch lässt sich das am Beispiel der Arbeitsverdichtung zeigen. Befragte, die keine Verdichtung ihrer Arbeit wahrnehmen, geben zur Hälfte (48 Prozent) an, gar nicht krank gearbeitet zu haben. Dieser Wert nimmt mit zunehmender Arbeitsverdichtung stark ab. In der Gruppe der Beschäftigten, die in sehr hohem Maße von Arbeitsverdichtung betroffen sind, sind es nur noch 22 Prozent, die niemals krank gearbeitet haben.
Der direkte Zusammenhang von Arbeitsbelastung und Präsentismus gilt dabei nicht nur für die Verbreitung, sondern auch für die Dauer des Präsentismus. So steigt der Anteil derjenigen, die angeben, eine Woche oder mehr krank gearbeitet zu haben, von 35 Prozent in der Gruppe ohne Arbeitsverdichtung auf 67 Prozent in der Gruppe, die in sehr hohem Maß von Arbeitsverdichtung betroffen sind.
Das betriebliche Miteinander, das zeigt die DGB-Umfrage deutlich, hat einen großen Einfluss auf die Frage, ob Beschäftigte trotz Krankheit arbeiten. Wenn Beschäftigte von einer guten Betriebskultur berichten, dann ist der Anteil derjenigen, die gar nicht krank gearbeitet haben, am größten – er liegt bei 48 Prozent. Je schlechter die Betriebskultur, desto häufiger wird auch krank gearbeitet. Der Anteil der Beschäftigten ohne Präsentismus sinkt mit jeder Stufe. Bei belastender Betriebskultur liegt er bei nur noch 19 Prozent.
Neben der Belastungssituation und der Betriebskultur ist die Arbeitsplatzsicherheit ein Merkmal der Arbeitsbedingungen, das deutliche Zusammenhänge zu Präsentismus aufweist. Beschäftigte, die sich häufig um den Verlust ihres Arbeitsplatzes sorgen, arbeiten deutlich häufiger, obwohl sie sich richtig krank fühlen. In der Gruppe derjenigen, die sich nie oder nur selten Sorgen machen, haben 61 Prozent auch krank gearbeitet. Bei Beschäftigten mit großen Sorgen um den eigenen Arbeitsplatz sind es 81 Prozent.
Ein sicherer Arbeitsplatz sowie eine gute Betriebskultur wirkt einem gesundheitsgefährdendem Präsentismus entgegen. Dazu gehört auch, dass Beschäftigte im Krankheitsfall die Möglichkeit zur Genesung haben. Dafür ist eine gute Planung der Arbeitsprozesse und -organisation durch die Vorgesetzten nötig, die berücksichtigt, dass Beschäftigte wegen Krankheit ausfallen können. Vorkehrungen, mit denen eine Überlastung der verbleibenden gesunden Kolleginnen und Kollegen vermieden wird, erleichtern die Entscheidung, bei Krankheit zu Hause zu bleiben.
Gute Arbeit, das zeigt die DGB-Umfrage klar, schützt nicht nur die Gesundheit. Sie ist auch förderlich für eine erfolgreiche Genesung.