Interview mit Rainer Bremer, Bildungsforscher Universität Bremen
Betriebe müssen genau hinsehen

Zum Start des Ausbildungsjahrs sind viele Jugendliche auf der Suche nach einer Stelle. Berufsbildungsforscher Rainer Bremer über Anforderungen an Betriebe in Zeiten demografischen Wandels, Chancenungleichheit und warum Schulnoten unwichtiger werden.

27. August 201327. 8. 2013


Bundesweit gibt es kurz vor Beginn des Ausbildungsjahrs noch mehr als 146000 freie Stellen, gleichzeitig sind 200 000 junge Menschen auf der Suche. Da passt das Angebot der Betriebe nicht mit den Wünschen der Jugendlichen zusammen, oder?

Rainer Bremer: Wie heißt es bei den Gebrüdern Grimm im Froschkönig? „Früher, als das Wünschen noch geholfen hat.“. Im Ernst, die reibungslose Passung zwischen Ausbildungsplatzangebot und -nachfrage ist eine Illusion. Ich kann nichts Schlimmes darin erkennen, dass in Zeiten des Fachkräftemangels junge Menschen nicht das erstbeste Ausbildungsangebot wahrnehmen. Insofern verhalten sie sich marktrational; sie werden gesucht und das ist besser, als wenn sie wie früher froh über jedes Angebot sein müssten.

Es gibt ja große branchenspezifische und regionale Unterschiede. In einigen Bundesländern gibt es mehr Stellen als Bewerber, in anderen ist es genau umgekehrt.

Stimmt, da muss man die Statistik höher auflösen. Paradiesische Verhältnisse sind noch nicht ausgebrochen. Hinter dem zahlenmäßigen Missverhältnis verbergen sich aber auch gravierende bildungspolitische Missstände.

In den kommenden Jahren wird der demografischeWandel sehr viel spürbarer werden. Die Unternehmen müssen also noch mehr Offenheit bei der Besetzung von Stellen zeigen ...
Ja, nach meiner Kenntnis gehen die Unternehmen, die sich das leisten können, präventiv vor. Bereits jetzt bereiten sie ihre Ausbildungsabteilungen darauf vor, Schüler der 8.und 9. Klasse durch Praktika in ihrer Entwicklung so zu beeinflussen, dass eine Ausbildungsunreife gar nicht erst entsteht. Dabei geht es natürlich auch wieder um eine Art Bestenauslese. Das kann man anprangern, ja. Aber eigentlich ist es doch eine bildungspolitische Bankrotterklärung, die Verantwortung für eine hinreichende Bildung junger Menschen auf die Ausbilder in den Betrieben zu schieben.

Aber noch immer tun sich viele Betriebe schwer damit, bestimmte Bewerber einzustellen, vor allem Jugendliche mit schlechteren Noten.
Die Schulnoten haben mehr und mehr an Bedeutung verloren. Was in der Tendenz noch gilt, ist, dass gute Noten weniger über Bewerber besagen als schlechte. Die Zeiten sind vorbei, als man sich per Vorauswahl unter den vielen potenziell geeigneten Bewerbern die besten aussuchen konnte. Jetzt muss man sich auch diejenigen Jugendlichen genauer ansehen, die auf den ersten Blick wegen schlechter Noten eigentlich nicht infrage kämen. Das wird Schulnoten noch weiter entwerten.

Viele fordern, die Unternehmen stärker in die Pflicht zu nehmen. Sie sollten Haupt- und Realschülern Chancen geben, auch durch eine verlängerte Ausbildung.
Das kann man fordern. Ich fürchte aber, die Forderung wälzt eine Aufgabe auf Unternehmen ab und landet bei Kollegen mit Ausbildungsfunktion.Klaffen Anforderungen der Ausbildung und individuelles Leistungsvermögen aber so auseinander, dass ein hinreichendes Ausbildungsergebnis nicht möglich erscheint, kann man von Facharbeitern und Meistern schlecht Erfolge verlangen, die die Lehrer etwa schon schuldig geblieben sind.

Zugleich sind laut eines Berichts der Antidiskriminierungsstelle des Bundes Benachteiligungen in Bildungseinrichtungen verbreitet. Schon in der Grundschule bekommen Kinder mit Migrationshintergrund seltener eine Gymnasialempfehlung. Auch wenn sie genauso gute Leistungen bringen wie deutsche Kinder.
Letzteres, wenn es sich auf einen direkten Vergleich zwischen deutschen und Kindern mit ausländischen Wurzeln bezieht, ist eindeutig eine Diskriminierung. Generell aber rate ich zur Vorsicht bei solchen Studien. Die erwähnte beruht auf Befragungen durch eine Stelle, deren Aufgabe es ist, solche Ergebnisse herauszufinden.

Fakt ist, dass Kinder aus Akademikerfamilien eine viel größere Chance haben, später selbst ein Studium aufzunehmen als Kinder aus Arbeiterfamilien. Wie lässt sich die Kluft schließen?
Seit den 60er-Jahren beobachten wir zwei gegenläufige Tendenzen: konjunkturell oder demografisch bedingt kommt es immer wieder zur Ausschöpfung von sogenannten Begabungsreserven. Dann wird sozialer Aufstieg durch Bildungsteilnahme ermöglicht. Nun neigen aber jene, denen ein solcher Aufstieg eröffnet wurde, dazu, die Zugänge hinter sich zu verschließen, weil sie den Abstieg fürchten. Solche Tendenzen beobachten wir gerade.

Wie muss sich das Bildungssystem verändern?
Die Frage nach dem System? DerUnterricht misslingt, er erreicht seine Ziele nicht. Jetzt läge eine Lehrerschelte auf der Hand, die mir allerdings fernliegt. Kinder kommen nach vier Schuljahren auf weiterführende Schulen, ohne sicher lesen und schreiben zu können und die vier Grundrechenarten zu beherrschen. Wir brauchen wieder mehr pädagogische Professionalität und vor allem wieder die Autonomie des Fachunterrichts.

Was kannst Du jungen Menschen, die jetzt am Berufsstart stehen,mit auf den Weg geben?
Sie sollen die vergleichsweise komfortable Situation bei der Wahl eines Berufs nutzen, um mit der Ausbildung einen Durchstieg in eine berufliche Karriere zu haben. Und ich würde zu bedenken geben: mit einem akademischen Abschluss in einem Massenfach gerät man schneller in prekärere Beschäftigungsverhältnisse als etwa ein ausgebildeter Fluggerätmechaniker bei Airbus, dem innerbetriebliche Karrierewege offenstehen.

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