21. Mai 2014
Interview mit dem Zweiten Vorsitzenden der IG Metall
Arbeiten, leben, lieben und lachen
Den Wert der Arbeit schätzen, heißt unterschiedliche Lebensentwürfe und -umstände der Beschäftigten anzuerkennen. Jörg Hofmann, Zweiter Vorsitzender der IG Metall, fordert ein neues Normalarbeitsverhältnis, das die Bedürfnisse unterschiedlicher Lebensphasen berücksichtigt.

Die Arbeitswelt wird immer differenzierter. Gibt es überhaupt noch etwas, dass alle Beschäftigten gemeinsam haben außer der Entgeltfrage?

Jörg Hofmann: Oh ja. Arbeit hat eine große Bedeutung im Leben der Menschen. Das zeigt die Beschäftigtenbefragung deutlich. Arbeit trägt zu einem erfüllten Leben, zur Sinnstiftung des Lebens bei. Unter einer Bedingung: Die Rahmenbedingungen müssen stimmen.

Leider stimmen die Rahmenbedingungen aber immer seltener.

Die Anforderungen der Betriebe dominieren mehr denn je die Interessenslagen der Beschäftigten. Mehrwert statt Wertschätzung, Marge statt Mensch, bestimmt den Arbeitsalltag. Der Widerspruch ist offensichtlich: Mehr denn je definiert sich der Mensch durch Erwerbsarbeit – und sieht sich mit einer sinkenden Wertschätzung seiner Arbeit konfrontiert.

Was bedeutet für Dich „Wertschätzung der Arbeit“?

Wertschätzung der Arbeit heißt auch, individuelle Lebensentwürfe der Beschäftigten zu respektieren.

Sind die Beschäftigten deutlich stärker auf sich selber gestellt, eine Balance zwischen Arbeit und Leben zu finden?

Das beobachten wir und das ist eine Anforderung, die sich mit der rasant wachsenden Zahl von Beschäftigten mit pflegebedürftigen Familienangehörigen nochmals deutlich erhöhen wird .

Gleichzeitig sind die Flexibilitätsanforderungen an die Beschäftigten seitens der Unternehmen gewachsen.

Massiv gewachsen. 30 Jahre Arbeitszeitverkürzung, 30 Jahre 35-Stunden-Woche, bedeuten auch 30 Jahre Zuwachs an Flexibilitätsansprüchen der Arbeitgeber. Aber Flexibilität darf keine Einbahnstraße sein! Die Beschäftigten fordern verbindliche Gegenleistungen in Form von Geld, Freizeit oder Zuschlägen. Unsere tariflichen Regelungen geben ihnen hier nur bedingt Schutz. Dies gilt insbesondere für die Gleitzeit.

Das ist ein dickes Brett, das wir zu bohren haben. Gesamtmetall lehnt individuelle Arbeitszeitmodelle und innovatives Handeln ab.

Wir wollen eine geordnete und das heißt mitbestimmte Flexibilität der Betriebe. Den Wert der Arbeit schätzen, heißt auch, die Lebensentwürfe der Beschäftigten und deren Lebensumstände anzuerkennen. Dabei steht bei der übergroßen Anzahl weiter die Vollzeitbeschäftigung im Vordergrund. Es geht nicht um die Auflösung des Normalarbeitsverhältnisses. Sondern gefordert ist ein neues Normalarbeitsverhältnis, das die Bedürfnislagen unterschiedlicher Lebensphasen berücksichtigt.

Wie könnten denn Standards für solche Normalarbeitsverhältnisse aussehen?

Normalarbeitsverhältnisse müssen sich an einigen Kriterien orientieren: Dazu gehören für mich kürzere und flexiblere Arbeitszeiten für Vollzeitbeschäftigte. Dazu gehört die Anerkennung der gesellschaftlichen Verantwortung für die Existenzsicherung und Unterstützung von Kindern beziehungsweise Pflegebedürftigen. Dazu gehört eine allgemeine und eigenständige soziale Sicherung von Männern und Frauen. Dazu gehört eine Verallgemeinerung der Sozialversicherungspflicht. Dazu gehört dann auch das Thema Beamte und Selbständige. Und dazu gehört auch eine Modernisierung des Steuerrechts inklusive der Abschaffung des Ehegattensplittings.

Was forderst Du von den Unternehmen?

Wenn es selbstverständlich sein soll, dass Männer und Frauen gleichberechtigt arbeiten, dass Eltern sich gleichberechtigt um ihre Kinder oder auch um pflegebedürftige Angehörige kümmern wollen und sollen – dann brauchen wir dieses Reformprojekt eines neuen Normalarbeitsverhältnis. Ein Arbeitsverhältnis, das erlaubt, die Arbeitszeit temporär zu verkürzen, ohne von der beruflichen Entwicklung abgekoppelt zu werden. Hinzu kommt: Nicht nur Pflege, auch der Erhalt von Qualifikation und Gesundheit erfordern die Möglichkeit, Arbeitszeit flexibel an die Lebensphase anzupassen.

Zwei Fragen hierzu diskutiert die IG Metall ja gerade: Wie geht es weiter mit den flexiblen Altersübergängen? Und: Wie kann berufliche Entwicklung von der Sonntagsrede ins reale Leben gebracht werden?

Ja. Die Frage nach den flexiblen Arbeitsübergängen müssen und wollen wir im Herbst beantworten.

Und die berufliche Entwicklung?

Ein höheren Abschluss während der Berufstätigkeit zu erwerben, scheitert heute zu oft an zwei Faktoren: Zeit und Geld.

Hat die IG Metall eine Lösung?

Unser Vorschlag ist hier eine Bildungsteilzeit. Egal, ob berufliche Entwicklung, Pflege oder Erhalt der Gesundheit: Wir brauchen Ansprüche, die Arbeitszeit temporär auch reduzieren zu können.

Unsere sozialen Sicherungssysteme sind eng verkoppelt mit dem Normalarbeitsverhältnis. Wie soll ein neues Normalarbeitsverhältnis eingebunden sein?

Neue Normalarbeitsverhältnisse brauchen eine gesetzlich und tarifpolitisch flankierte Arbeitszeitpolitik, die an den Lebensphasen ausgerichtet ist. Sie brauchen aber auch eine individuelle soziale Absicherung, etwa durch Teillohnausgleich und den Ausbau der Infrastruktur zur Bewältigung der Kinderbetreuung und Pflege.

Was ist Deine Forderung an Verbände und Politik?

Ich fordere die Verbände und vor allem die Politik auf, auch in dieser Frage die Tarifautonomie für passgenaue Lösungen für Branchen und Betriebe zu stärken. Wenn wir Ansprüche für Pflege- und Bildungszeiten tariflich vereinbaren und hierzu auch zumindest teilweise Entgeltausgleiche organisieren, dann müssen diese verteilungspolitisch erkämpften Ausgleichszahlungen aber mindestens komplett steuerfrei und teilweise abgabenfrei bleiben.

Kann die Altersteilzeit hier eine Blaupause sein?

Ja. Ein neues Normalarbeitsverhältnis braucht auch Schutz und einen Ordnungsrahmen durch die Politik. Und mein Gefühl und unsere Beschäftigtenbefragung sagt mit: Es sind nicht nur die richtigen Fragen – jetzt ist auch der richtige Zeitpunkt, sich mit voller Kraft in diese Debatte einzubringen und diese nach vorne zu treiben. Dazu gehört, tarifpolitisch kurz- und mittelfristige Ziele zu beschreiben, mit guten betrieblichen Beispielen den Weg zu zeigen und klare Anforderungen an Politik zu formulieren.


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