SPIEGEL: Herr Wetzel, die IG Metall will in der nächsten Woche ihre Forderung für die anstehende Tarifrunde aufstellen – und ausgerechnet jetzt kühlt sich die Konjunktur ab. Fällt Ihre Zahl für das nächste Jahr nun etwas bescheidener aus?
Wetzel: Ich beurteile die wirtschaftliche Entwicklung immer noch als stabil. Die Debatte ist doch von Hybris geprägt: Kaum weisen einzelne Indikatoren kurz nach unten, da orakeln die Medien schon von einer Rezession. Wir halten uns an die Fakten – und da sehe ich für das nächste Jahr keinen Grund zu Pessimismus.
SPIEGEL: Andere schon. Die Bundesregierung hat ihre Wachstumsprognose bereits nach unten revidiert, die Eurokrise kehrt zurück, und die außenpolitischen Spannungen in der Ukraine und der arabischen Welt treffen vor allem die exportorientierte deutsche Wirtschaft. Gibt es da überhaupt noch etwas zu verteilen?
Wetzel: Die Prognosen für dieses und das kommende Jahr sind weniger gut als vor einem halben Jahr, aber nach wie vor gut. Was mir mehr Kopfzerbrechen macht, sind die großen Unterschiede in den Branchen. Wir haben ein riesiges Umsatzplus in der Automobilindustrie, aber eine durchwachsene Situation im Maschinenbau. Es wird eine Kunst sein, eine Tarifforderung aufzustellen, die für den einen nicht zu hoch und für den anderen nicht zu niedrig ist.
SPIEGEL: Ihre Mitglieder in den Regionen haben da sehr konkrete Vorstellungen. Sie sprechen sich für Lohnerhöhungen zwischen fünf und sechs Prozent aus.
Wetzel: Ich will mich jetzt nicht festlegen. Die Betriebsräte in Betrieben mit hohen Gewinnen werden höhere Forderungen haben als die Kollegen in Unternehmen, die von den Russland-Sanktionen betroffen sind. Unsere Aufgabe als Vorstand ist es, das in ein Gesamtbild zu gießen.
SPIEGEL: Sie wollen in der Tarifrunde nicht nur über Lohnprozente, sondern auch über eine sogenannte Bildungsteilzeit verhandeln. Das kostet Geld – und dürfte den Spielraum für Lohnerhöhungen schmälern.
Wetzel: Tarifverhandlungen laufen nicht nach mathematischen Formeln ab. Die großen Konflikte in der Metallindustrie fanden nicht darüber statt, ob man mit 3,0 oder 3,3 Prozent mehr Lohn abschließt, sondern da ging es um Arbeitszeit, Altersteilzeit oder Kurzarbeit. Das sind Dinge, die unsere Mitglieder bewegen. Mit der Bildungsteilzeit sorgen wir dafür, dass alle Beschäftigten für den extremen Strukturwandel gerüstet sind, den die Digitalisierung mit sich bringen wird.
SPIEGEL: Was genau sollen wir uns denn unter Bildungsteilzeit vorstellen?
Wetzel: Ein Ungelernter könnte einen Abschluss als Facharbeiter machen. Er bekäme beispielsweise zwei Jahre lang weniger Geld ausgezahlt und würde einen Teil seines Lohns ansparen. Dann verlangen wir in der Zeit der Freistellung, dass der Arbeitgeber einen Teil des Lohns weiterzahlt, der dann durch die angesparten Beiträge der Beschäftigten ergänzt wird.
SPIEGEL: Warum sollten die Unternehmen dabei mitmachen?
Wetzel: Die Betriebe sollten das als Investition in die Zukunft begreifen. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht in eine apokalyptische Situation geraten: dass wir eine rasant steigende Arbeitslosigkeit und einen rasant steigenden Fachkräftemangel gleichzeitig erleben. Gerade die Digitalisierung erfordert Bildung, wenn wir vermeiden wollen, dass Beschäftigte in der neuen Arbeitswelt der sogenannten Industrie 4.0 abgehängt werden.
SPIEGEL: Bislang gilt: Ohne Bildung gehört man zu den Verlierern in der Arbeitswelt. Gehört es nicht mittlerweile zur bitteren Wahrheit, dass die Digitalisierung auch Menschen mit Bildung zu Verlierern machen kann?
Wetzel: Es gibt wohl so viele Szenarien wie Experten. Manche behaupten, die Digitalisierung werde die Zahl der Arbeitsplätze halbieren. Andere prophezeien Millionen neuer Jobs. Keines der Szenarien erfüllt sich von selbst. Die Zukunft ist gestaltbar. Wir wollen die Chancen erhöhen und die Risiken minimieren.
SPIEGEL: Was ist denn Ihre Einschätzung?
Wetzel: Es wird definitiv erhebliche Produktivitätsschübe in der Industrie 4.0 geben. Ich glaube aber auch, dass es neue Geschäftsmodelle geben wird. Die Frage ist: Wie reagieren wir darauf? Der Fortschritt kann zur weiteren Humanisierung der Arbeit führen und zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Leben. Es könnte aber auch passieren, dass dem Menschen jegliche Autonomie wegorganisiert wird. Technik an sich ist weder böse noch gut.
SPIEGEL: Die neue Qualität des Fortschritts ist, dass er heute selbst Wissensjobs automatisiert. Hoch qualifizierte Fachkräfte fürchten plötzlich, dass auch ihre Arbeit vom Computer erledigt werden könnte.
Wetzel: Seit Jahrzehnten gab es immer wieder die Vision der menschenleeren Fabrik. Ich glaube nicht daran. Die Arbeit wird sich ändern, aber es wird neue Tätigkeiten geben. Deswegen ist die Frage der Qualifikation so wichtig. Wenn wir uns anstrengen, kann ein großer Teil derer, die heute in bedrohten Bereichen beschäftigt sind, auch in anderen weiterarbeiten.
SPIEGEL: In der Industriegesellschaft erschien man pünktlich morgens zur Schicht und hatte einen festen Tagesablauf. Heute arbeiten viele Beschäftigte in Projekten und teilen ihre Zeit selbst ein. Passt eine Industriegewerkschaft noch zu dieser Arbeitswelt?
Wetzel: Die IG Metall hat sich längst gewandelt. Wir vertreten nicht nur Industriearbeiter, sondern auch Beschäftigte der industriellen Dienstleistungen und technische Experten. Wir sind der Seismograf, der die Änderung der Arbeitswelt und der Lebensstile aufspürt. Eine Vielfalt individualisierter Arbeitsmöglichkeiten ist ja wünschenswert. Unsere Aufgabe muss es sein, dafür zu sorgen, dass sie zum Nutzen der Menschen ist.
SPIEGEL: Wenn es um die Folgen der Digitalisierung ging, haben sich die Gewerkschaften doch vor allem darauf beschränkt, über die permanente Erreichbarkeit durch E-Mails und Smartphone zu klagen.
Wetzel: Das ist ein wichtiger Teil der Debatte, aber natürlich nur ein Symbol für das, worüber wir diskutieren: Wie schaffen wir es, Normen und Regeln in eine neue Welt hineinzubringen? Die alten Regeln sind nicht überflüssig, aber sie funktionieren nur bedingt in der neuen Welt. Doch auch in der Zukunft sollten die Arbeitnehmer ein Recht auf Mitbestimmung, gutes Einkommen, soziale Sicherheit und Gesundheitsschutz haben.
SPIEGEL: Muss dann auch die IG Metall bei ihrer Arbeit umdenken?
Wetzel: Unsere Mitgliedschaft ist viel bunter geworden. Nehmen wir die Arbeitszeitgestaltung als Beispiel: Ein Bandarbeiter freut sich über jede Minute, die er am Tag weniger am Band stehen muss. Ein Ingenieur würde uns komisch anschauen, wenn wir sagen würden, er solle jetzt sieben Stunden und 22 Minuten arbeiten. Der wird eher sagen: Ich möchte nach einem halben Jahr Projekt sechs Wochen frei haben, um meine Überstunden abzufeiern. Wir müssen also für ein Problem unterschiedliche Lösungen finden.
SPIEGEL: Gibt es denn in der digitalisierten Welt überhaupt noch gemeinsame Interessen von Arbeitnehmern?
Wetzel: Davon bin ich fest überzeugt. Die Themen werden sich verändern, mit ihnen ändert sich aber auch der soziale Status eines Teils der Beschäftigten. In zehn Jahren werden wir eine Debatte unter denjenigen Selbstständigen haben, die sich heute in der digitalen Welt ohne ausreichende soziale Absicherung verdingen: Warum geht es mir schlechter als anderen? Und wir müssen uns deshalb bereits heute überlegen, wie wir gewerkschaftliche Strukturen für Soloselbstständige schaffen.
SPIEGEL: Ihr Problem beginnt doch mit der Frage, wie Sie die Arbeitnehmer überhaupt erreichen. Viele Kollegen arbeiten nicht mehr in einem Betrieb Tür an Tür, sondern weltweit verstreut, verbunden über das Netz.
Wetzel: Unterschätzen Sie uns nicht. Bei uns sind beispielsweise rund 60000 Leiharbeiter organisiert. Vor zehn Jahren hätte man jeden ausgelacht, der gesagt hätte, die Leiharbeiter werden bei der IG Metall eintreten. Die arbeiten wirklich fragmentiert und haben vielleicht hundert Kollegen, die über 30 verschiedene Fremdfirmen verteilt sind. Aber wir sind in die Betriebe gegangen, wo sie arbeiten, und haben sie gefragt, was ihnen wichtig ist.
SPIEGEL: In der digitalen Arbeitswelt gibt es keinen Pausenraum, in dem der Betriebsrat Plakate aufhängen kann, und die Betriebsversammlung verliert an Bedeutung. Müssen sich nicht auch die Gewerkschaften digitalisieren?
Wetzel: Wir benutzen bereits alle gängigen Kommunikationswege – Twitter, Facebook, Websites. Unsere Kommunikation mit Ingenieuren etwa findet vor allem über digitale Plattformen statt. Aber jetzt geht es um Ideen. Wir haben Veränderungsbedarf als Gewerkschaften. Wir können den Gang der Dinge nicht der Industriegeschichte überlassen, sondern müssen ihn mit klugen Konzepten gestalten.
SPIEGEL: Als Gestalter der digitalen Moderne ist uns die IG Metall noch nicht aufgefallen.
Wetzel: „Die IG Metall“ kann stellvertretend überhaupt gar nichts mehr durchsetzen. Die Menschen selbst, die die IG Metall ausmachen, müssen handeln. Die große Herausforderung für die Gewerkschaften wird sein, die Menschen aus ihrer Objektrolle rauszuholen und sie zu eigenverantwortlichen Subjekten zu machen.
SPIEGEL: Wie wollen Sie das erreichen?
Wetzel: Indem wir beispielsweise auch die Nichtmitglieder in den Betrieben an unserer Willensbildung beteiligen. Wir haben seit 2009 zwei große Beschäftigtenbefragungen gemacht – zu unserer Tarif- und Gesellschaftspolitik. Jeweils rund eine halbe Million Menschen haben sich beteiligt, unabhängig von der Mitgliedschaft.
SPIEGEL: Allerdings bleibt ein Problem: Lässt sich in der digitalen Arbeitswelt überhaupt noch ein Streik organisieren?
Wetzel: Ich glaube schon. Nehmen wir die sogenannten Clickworker, die zu Hause am Computer Arbeitsaufträge übernehmen – für durchschnittlich 1,25 Dollar Lohn pro Stunde in den USA. Auch die wünschen sich eine angemessene Bezahlung. Da unterscheidet sich der digitale Arbeiter nicht von dem Bandarbeiter bei VW. Der Unterschied ist, dass er schwerer erreichbar ist. Sein Betrieb ist das Internet – und dort müssen wir ihn ansprechen.
SPIEGEL: Bislang brauchte jeder Streik plakative Bilder. Wenn mehrere Internetarbeiter streiken und den Rechner ausschalten, ist noch lange nicht öffentlich sichtbar, dass sie für ihre Rechte kämpfen.
Wetzel: Die Sichtbarkeit verändert sich: Eine Aktion findet nicht nur auf der Straße statt, sondern auch in der virtuellen Welt. Und wenn sie im Internet kommuniziert wird, wird sie vielleicht sogar mehr beachtet, als wenn ein Arbeitskampf nur auf einem Marktplatz stattfände. Wir müssen nur genügend gute Leute in den Gewerkschaften haben, die in diesen Medien leben und unsere kulturelle Anschlussfähigkeit zu den neuen Milieus sicherstellen.
SPIEGEL:: Kaum eine Gewerkschaft vermag so sichtbar zu streiken wie derzeit die Lokführer. Sind Sie neidisch auf die Kollegen?
Wetzel: Ganz im Gegenteil. Bilder sind wichtig, aber am Ende werden wir daran gemessen, was wir für die Menschen erreicht haben. Das Vorgehen der GDL schürt eher die Stimmung gegen die Gewerkschaften. Sie ist ein abschreckendes Beispiel dafür, wie eine Gewerkschaft nicht die Zeichen der Zeit erkennt und die Veränderungen ignoriert, von denen ihre Mitglieder bedroht sind: In zehn Jahren werden wir höchstwahrscheinlich in Zügen sitzen, die zu einem großen Teil gar nicht mehr mit Lokführern bestückt sind.
SPIEGEL: Begrüßen Sie dann den Gesetzentwurf der Großen Koalition zur Tarifeinheit, der denjenigen Gewerkschaften Vorrang gibt, die eine Mehrheit der Beschäftigten im Betrieb vertreten?
Wetzel: Auf alle Fälle ist es gut, dass das Gesetz durch das Mehrheitsprinzip wieder den Mitgliederwillen in den Vordergrund rückt. Dadurch kann keine Gewerkschaft – ob groß oder klein – mehr Ansprüche auf Berufsgruppen erheben, von denen sie nicht legitimiert ist. Zuständigkeit zu reklamieren, obwohl einem die Mitglieder zur Durchsetzung fehlen – das ist der Tod der Gewerkschaftsbewegung.
SPIEGEL: Sie sind doch ein Profiteur. Ihnen schafft das Gesetz die Konkurrenz der kleinen Spartengewerkschaften vom Hals.
Wetzel: Das glaube ich nicht. Die großen Gewerkschaften werden feststellen, dass sie in einigen Betrieben die kleinen sind. Außerdem habe ich keine Aversion gegen Spartengewerkschaften. Ich halte es für legitim, dass die GDL für Lokführer zuständig ist, weil sie dort die Mehrheit hat. Aber wie die GDL in anderen Bereichen nicht die Mehrheit zu haben und sich trotzdem für zuständig zu erklären, das ist undemokratisch. Wenn die IG Metall in einer Branche keine Mehrheit organisieren kann, dann ist das unser Problem. Aber wenn wir Mehrheitsgewerkschaft sind, dann will ich nicht, dass sich der Arbeitgeber eine Gewerkschaft für einen Gefälligkeitstarifvertrag aussuchen kann, ohne den Willen unserer Mitglieder zu berücksichtigen.
SPIEGEL: Sie sind doch ebenso bedroht. Auch in Ihren Reihen sterben Berufe aus. Müssen Sie neu bestimmen, für wen und was Sie stehen?
Wetzel: Wenn die Gewerkschaften es nicht schaffen, sich den veränderten strukturellen Bedingungen anzupassen, wird der Wandel der Geschichte über sie hinweggehen. Das wollen wir verhindern. Deshalb entwickeln wir uns beständig weiter.
SPIEGEL: Herr Wetzel, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Interview aus SPIEGEL 45/2014, http://www.spiegel.de/spiegel/