28. Juni 2017
IG Metall-Studie zur Integration von Migranten
Demokratische Teilhabe im Betrieb
Wir sind ein „Spiegel der Gesellschaft“ – zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Studie. Unabhängig von der Herkunft gelingt es uns, die Beschäftigten anzusprechen und für gemeinsame Ziele zu gewinnen. Insgesamt erweisen wir uns damit als gutes Beispiel für gelungene Integration.

Im Zeitalter der Globalisierung ist Migration ein globales Massenphänomen. Immer mehr Menschen auf der ganzen Welt verlassen ihre Heimat. Gegenwärtig leben nach Schätzungen internationaler Organisationen mehr als 210 Millionen Menschen vorübergehend oder dauerhaft in anderen Ländern. Dies entspricht weit mehr als der doppelten Bevölkerungszahl der Bundesrepublik. Menschen verlassen ihre Heimat auf der Suche nach einem besseren Leben. Sie verlassen ihr Land, um ihr Leben zu retten, um ihre Existenz zu sichern oder Familienangehörigen zu folgen. Einige wollen nur für kurze Zeit in einem anderen Land bleiben, andere für mehrere Jahre oder gar den Rest ihres Lebens.

Auch die Geschichte Deutschlands ist von Zuwanderung geprägt – von den großen Wanderungsbewegungen in Folge der Neuordnung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg, von der Anwerbung von Ausländern als sogenannte „Gastarbeiter“, durch den Familiennachzug ihrer Angehörigen oder durch die Zuwanderung aus der Europäischen Union (EU) im Rahmen der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Heute hat ein Fünftel der deutschen Bevölkerung einen Migrationshintergrund. Spätestens seit der Zuwanderung von über einer Million Flüchtlinge seit Herbst 2015 ist der Themenkomplex Migration, Flucht, Integration und Teilhabe zu einem innenpolitischen Konfliktfeld geworden.


Aktives Engagement

WIr treten für eine offene, tolerante, soziale und gerechte Gesellschaft ein. Wir vertreten den Standpunkt, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist und wirtschaftlich, sozial sowie kulturell von Zuwanderung profitiert. Gleichzeitig engagieren wir uns aktiv für Integration und Teilhabe. Wir leben Solidarität in Betrieb und Gesellschaft praktisch vor und zeigen, dass durch Gleichbehandlung, durch politische Beteiligung sowie soziale und berufliche Förderung Integration gelingen kann.

Im Jahr 2016 ist es uns zum sechsten Mal in Folge gelungen, einen Mitgliederzuwachs zu verzeichnen. Ein zentraler Treiber der positiven Mitgliederentwicklung ist das Wachstum bei den sogenannten strategisch wichtigen Zielgruppen: bei Angestellten, Frauen, jungen Beschäftigten und Studierenden. Wir haben den Anspruch, die Vielfalt in den Belegschaften in unserer Mitgliederstruktur abzubilden. Die Herausforderung ist – trotz dieser Vielfalt in Betrieb und Gesellschaft – mit klaren Positionen und Forderungen profiliert und pointiert zu agieren. Während wir über unsere Mitgliederstruktur bezogen auf die Merkmale Berufsgruppe, Alter und Geschlecht bis ins Detail aussagefähig ist, waren wir, bezogen auf das Merkmal „Mitglieder mit Migrationshintergrund“, bislang kaum auskunftsfähig. Es konnten keine Angaben zu Herkunftsländern, Beschäftigung, Ausbildung oder Bindung an uns gemacht werden.


Quantitative Erkenntnisse

Ebenso gab es einen blinden Fleck hinsichtlich der Kolleginnen und Kollegen mit Migrationshintergrund in den Betriebsrats- und Vertrauensleutegremien. Um diese Informationslücken zu schließen, haben wir das Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) der Humboldt-Universität zu Berlin (HU) beauftragt, eine repräsentative Befragung bei unseren Mitgliedern durchzuführen. Das Hauptziel der Befragung war, quantitative Erkenntnisse über unsere Mitglieder mit Migrationshintergrund zu gewinnen sowie herauszufinden, wie gut Migranten in die Arbeitswelt und in die Gewerkschaft integriert sind. Mit den Ergebnissen der Studie wollen wir einen Beitrag leisten, um die Effekte rechtlicher und verfasster Gleichstellung als Voraussetzung für Integration und Partizipation aufzuzeigen. Gute Arbeit ist die Voraussetzung für die Integration in die Gesellschaft. Gute Arbeit ist sinnstiftend, verleiht Selbstachtung und ist Quelle von Anerkennung.

Gute Arbeit ist die Grundlage dafür, dass Menschen sich engagieren und die Gesellschaft mitgestalten wollen. Dabei sind das Betriebsverfassungsgesetz und unsere Satzung zwei konstitutive Elemente für demokratische Teilhabe im Betrieb und in der Gewerkschaft. Schon seit den 1970er Jahren genießen alle Beschäftigten – unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft – ein aktives und passives Wahlrecht in den Betrieben. Laut Satzung gehört es zu unseren zentralen Aufgaben und Zielen, die Gleichstellung von Männern und Frauen aktiv zu fördern, unabhängig von ethnischer Herkunft, Geschlecht, Religion oder Weltanschauung. Ob damit jedoch eine Repräsentanz von Mitgliedern mit Migrationshintergrund in betrieblichen und gewerkschaftlichen Strukturen ermöglicht wird, sollte ebenfalls untersucht werden.


Aufschlussreiche Ergebnisse

Hinzu kommt ein weiterer wichtiger Aspekt, der uns bewogen hat, diese Studie zu beauftragen. In der Forschung und den wissenschaftlichen Fachdiskursen rund um das Thema Migration und Rassismus werden Gewerkschaften häufig pauschal als Organisationen beschrieben, die Migranten ausgrenzen oder sogar diskriminieren. Diese These wird in der Regel an der Vermutung festgemacht, dass Migrantinnen gemessen an ihrem geschätzten Anteil an den Mitgliedern in wichtigen Funktionen unterrepräsentiert seien. Die Studie macht deutlich, welches Informationsdefizit im Hinblick auf Gewerkschaftsmitglieder mit Migrationshintergrund vorherrscht. Auf Grundlage von Schätzungen kommen wir zu der Annahme, dass die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder mit Migrationshintergrund (nur) leicht unter den Mitgliedern ohne Migrationshintergrund liegt.

Die Studie „Mitglieder mit Migrationshintergrund in der IG Metall“ kommt zu zahlreichen aufschlussreichen Ergebnissen, aus denen sich Handlungsbedarfe für die gewerkschaftliche Praxis ableiten lassen. Unsere Mitgliederstruktur spiegelt die Bevölkerungsstruktur wider: Laut den Zahlen des Statistischen Bundesamts hatten in Deutschland im Jahr 2016 21 Prozent der Menschen einen Migrationshintergrund. In den Branchen, in denen wir vertreten sind, sind es 20,2 Prozent der Beschäftigten. Unsere Befragung ergab, dass 21,7 Prozent unserer Mitglieder einen Migrationshintergrund haben. Bei den Mitgliedern im Betrieb liegt der Anteil mit 24,4 Prozent sogar höher.


Knapp 500 000 Mitglieder mit Migrationshintergrund

Das lässt drei Schlüsse zu: Erstens gelingt es uns erfolgreich, die Beschäftigten in den Betrieben, unabhängig von ihrer Herkunft, zu gewinnen; zweitens sind wir eine Gewerkschaft, die durch Einwanderer und Einwandererinnen und ihre Nachkommen stark geprägt wurde und bis heute geprägt wird. Und drittens sind wir mit knapp 500 000 Mitgliedern mit Migrationshintergrund die größte politische Organisation in Deutschland, in der Menschen mit Migrationshintergrund ihre Interessen vertreten und sich einbringen können. Das BIM konstatiert in seinem Projektbericht, „dass die IG Metall nach diesen Ergebnissen die erste (politische) Großorganisation ist, die sich in Bezug auf den Migrationshintergrund als ,Spiegel der Gesellschaft’ bezeichnen kann.“

Auch die regionalen Unterschiede beim Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund in der Gesamtbevölkerung werden bei uns abgebildet: Dieser variiert von Bundesland zu Bundesland erheblich. Dies ist gut erkennbar durch einen Vergleich der Bezirke Baden-Württemberg und Berlin-Brandenburg-Sachsen. In Baden-Württemberg haben 28 Prozent der Bevölkerung einen Migrationshintergrund, während dies 33,7 Prozent unserer Mitglieder in den Betrieben sind. Im Bezirk Berlin-Brandenburg-Sachsen liegt der Anteil der Mitglieder mit Migrationshintergrund mit 9,2 Prozent sehr viel niedriger.


Anschlussfähig für Menschen mit Migrationshintergrund

Die Mitglieder mit Migrationshintergrund repräsentieren die Migrationsbewegungen aus den unterschiedlichen Herkunftsländern: Bislang ging die Literatur davon aus, dass vor allem die Anwerbeabkommen der 1960er und 70er Jahre ursächlich für den Anteil an Mitgliedern mit Migrationshintergrund sind. Die Ergebnisse der Studie zeigen hingegen, dass auch jüngere Migrationsbewegungen in unserer Mitgliederstruktur abgebildet werden. Der Anteil der Menschen aus der Türkei ist mit 17,2 Prozent erwartungsgemäß hoch. Aber auch die Migrationsbewegungen der späten 1980er und frühen 90er Jahre sind in unserer Mitgliedschaft gut repräsentiert. Der hohe Anteil der Menschen, die aus den mittel- und osteuropäischen Staaten wie Polen und Rumänien kommen, macht dies deutlich. Hinzu kommen Russland und Kasachstan mit einem Anteil von 12,6 Prozent.



Das zeigt, dass wir für Menschen mit Migrationshintergrund anschlussfähig ist und bleiben. Schon Anfang der 1960er Jahre waren wir eine der ersten Organisationen, die ausländische Arbeitnehmer aufnahm und sie bei der Integration in die Unternehmen sowie in die Gesellschaft unterstützte. Zahlreiche erfolgreiche Initiativen für Gleichberechtigung und gegen Rassismus wurden angestoßen (zum Beispiel „Gelbe Hand“, „Respekt – Kein Platz für Rassismus“). Dazu kommen die diskriminierungsfreien Richtlinien und Regeln der Gewerkschaft, ihre Bildungsarbeit und das explizit antirassistische Selbstverständnis der haupt- und ehrenamtlichen Funktionärinnen und Funktionäre, das sich aktuell auch in ihrem starken Engagement für Flüchtlinge widerspiegelt.


Wahlämter äußerst beliebt

Mitglieder mit Migrationshintergrund sind bei uns gleichberechtigt: Zahlreiche Studien zur strukturellen Diskriminierung zeigen die Benachteiligung von Migranten und Migrantinnen in der Arbeitswelt auf. So haben zum Beispiel Menschen mit einem türkischen Namen schlechtere Chancen, zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden. Die vorliegende Studie zeigt die positiven Effekte formaler Gleichbehandlung aller Menschen und Beschäftigten. Das Betriebsverfassungsgesetz und unsere Satzung gewährleistet eine grundlegende Gleichbehandlung aller. In der Studie wird der Frage nachgegangen, ob diese formelle Gleichbehandlung auch dazu führt, dass Mitglieder mit Migrationshintergrund angemessen in Wahlämtern repräsentiert sind oder ob es auch in Betriebsrats- und Vertrauensleutegremien eine Art „gläserne Decke“ gibt.

Die Studie kommt zu einem gegenteiligen Ergebnis. Mitglieder mit Migrationshintergrund sind überproportional in Wahlämtern aktiv. Das gilt sowohl für betriebliche als auch für gewerkschaftliche Funktionen. 32 Prozent der Betriebsräte und 37 Prozent der Vertrauensleute haben einen Migrationshintergrund. Sie leisten damit einen großen Beitrag für gute und faire Arbeitsbedingungen. Aus Sicht des BIM ist schon die Mitgliedschaft bei uns „als eine Form von Engagement und damit als Indikator für die Integration in die Arbeitswelt“ zu bewerten. Dies gilt noch mehr, wenn die Kollegen bereit sind, Ämter und Funktionen zu übernehmen und sich einer demokratischen Wahl zu stellen. Die hohe Bereitschaft, sich einzubringen und Verantwortung zu übernehmen, ist ein Zeichen für unsere Fähigkeit, alle Beschäftigten – unabhängig von ihrer Herkunft ― zu integrieren.


Ausblicke und Handlungsbedarfe

Die Ergebnisse der Befragung sind in erster Linie ein Handlungsauftrag für uns. Aufgrund der demografischen und technologischen Entwicklungen wird es zu Veränderungen in den Belegschaften kommen. Es werden mehr Frauen, mehr Menschen mit akademischer Ausbildung und mehr Menschen mit Migrationshintergrund in den Unternehmen tätig werden. Deshalb legen wir in unserem Aus- und Weiterbildungsangeboten für Haupt- und Ehrenamtliche einen Schwerpunkt auf die Weiterentwicklung von Vielfalts- und Beteiligungskompetenz. Bereits in der Trainee-Ausbildung wird die Ansprache unterschiedlicher Zielgruppen thematisiert und exemplarisch geübt. Bei der Einstellung von Trainees wird auf eine an Vielfalt (diversity) orientierte Personalrekrutierung geachtet. Vielfalt ist auch eine Herausforderung für Kommunikation und Vermittlung. Dialog und Beteiligung brauchen Zeit und Räume für Austausch. Das wiederum stellt hohe Ansprüche an die Prozesskompetenz und Kommunikationsfähigkeit von Funktionären. Das Ziel ist, trotz unterschiedlicher Interessen und Biografien mit allen Beschäftigten zu einem gemeinsamen Handeln zu kommen, um Einkommen und Arbeitsbedingungen zu verbessern.

Darüber hinaus zeigt die Studie, dass die Verankerung und die Beteiligungsmöglichkeiten im Betrieb eine Schlüsselrolle für Integration und Teilhabe spielen. Durch die Möglichkeiten, die das deutsche Modell der Mitbestimmung eröffnet, können alle Beschäftigten die Arbeitswelt gleichermaßen mitgestalten. Ausbildung, Arbeit, Mitbestimmung und gewerkschaftliches Engagement waren und sind damit zentrale Erfolgsfaktoren für das Ankommen und die Emanzipation von Generationen von Eingewanderten in Deutschland. Mit einem Anteil von fast einer halben Million an den Mitgliedern sind wir die größte politische Organisation in Deutschland, in der sich Menschen mit Migrationshintergrund engagieren.


Entwicklung zweier Modelle für eine leichtere Integration

Damit sind wir eine kompetente Ansprechpartnerin für politische Entscheidungsträger bei Einwanderungs- und Integrationsfragen. Im Namen unserer Mitglieder setzten wir uns offensiv für die Entwicklung eines zeitgemäßen, unbürokratischen und sozialen Einwanderungskonzeptes ein, das Einwanderern und ihren Familien eine langfristige Perspektive in Deutschland ermöglicht, einen unkomplizierten und zügigen Zugang in das Ausbildungssystem und den Arbeitsmarkt eröffnet und die Anerkennung ausländischer Berufs(bildungs)-Abschlüsse vereinfacht.

Gerade in einer Zeit, in der sich unsere Gesellschaft zunehmend polarisiert und in der vermeintlich einfache Lösungen und Feindbilder Konjunktur haben, sehen wir uns in der Pflicht, unsere Expertise bei Integrationsfragen in die politische Debatte einzubringen. So haben wir gemeinsam mit der Bundesagentur für Arbeit (BA) zwei Modelle entwickelt, um Flüchtlinge in Ausbildung und Arbeit zu bekommen und ihnen dadurch die Integration zu erleichtern. Jetzt liegt es an den Arbeitgebern sowie den Betriebsräten, Jugend- und Ausbildungsvertretungen und Vertrauensleuten, die betriebliche Mitbestimmung in den Unternehmen dafür zu nutzen, dass das Integrationsjahr umgesetzt wird und Geflüchtete Chancen auf einen Arbeitsplatz bekommen.


Aus der Vielfalt eine Stärke machen

Die Studie zeigt, dass betriebliche Funktionsträger und Funktionsträgerinnen und unsere Beschäftigten über Vielfaltskompetenz verfügen. Das bedeutet, Themen so zu identifizieren und so zu bearbeiten, dass sie im Idealfall von allen Beschäftigten getragen werden. Die betriebliche Mitbestimmung bietet dabei einen wichtigen konstitutiven Rahmen, in dem die gleichberechtigte Aushandlung von vielfältigen Interessen und deren Durchsetzung möglich ist. Das heißt auch, gegen Diskriminierung in den Unternehmen vorgehen zu können. Die Auseinandersetzungen um Themen und Interessen haben eine stark integrierende Wirkung. Das heißt, wir machen aus unserer Vielfalt eine Stärke, um damit die Interessen aller durchzusetzen. Die Studienergebnisse zeigen, dass ein solidarisches und konstruktives Miteinander möglich ist. Das ist ermutigend, gerade in einer Zeit, in der Rechtspopulisten Menschen gegeneinander ausspielen und verunsichern.

Autoren: Christiane Benner, Zweite Vorsitzende der IG Metall, und Fessum Ghirmazion, bei der IG Metall zuständig für Integration und Teilhabe.

Der Beitrag ist erschienen in den WSI Mitteilungen 4/2017


Gleichstellung und Integration - Migration

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