Als Hasan Özen im Herbst 1963 die Nachricht erhält, dass er zum Arbeiten nach Deutschland fahren wird, steht er vor einem Problem. Er will sich für den großen Schritt in die Fremde wappnen. Aber: Wie bereitet man sich auf eine Reise ins Ungewisse vor?
„Ich wohnte in einem Dorf, ich wusste nichts über Deutschland“, erinnert sich der Metaller, der heute 82 Jahre alt ist. „Also habe ich mir ein Wörterbuch gekauft. Ich dachte: Zuerst muss ich die Sprache lernen.“
Drei Tage und zwei Nächte dauert die Zugfahrt von Istanbul nach Deutschland. In dieser Zeit prägt sich Hasan seine ersten 100 deutschen Wörter ein.
An seine Ankunft in Duisburg erinnert sich Hasan noch genau: Am Bahnsteig drängen sich die Menschen. Unbekannte bieten ihm Cola-Dosen an, überreichen Blumen. In einer Gaststätte gab es halbe Hähnchen für ihn und die anderen Neuankömmlinge. „Deutschland ist ein schönes Land“, habe er damals gedacht. Doch bald erfährt er auch die Schattenseiten seiner neuen Existenz als „Gastarbeiter“, wie es damals heißt.
In seiner ersten Unterkunft teilt er sich einen Raum mit 60 anderen Männern. Zum Deutschlernen hat er kaum Gelegenheit. Sein erster Lohn beträgt 200 D-Mark im Monat. „Davon gingen 50 Mark für Miete ab und 60 Mark für Essen“, sagt er. „Den Rest habe ich nach Hause zur Familie geschickt.“
Das Durchschnittsentgelt für Arbeitnehmer liegt damals bei rund 700 Mark im Monat. Um mehr zu verdienen wechselt Hasan mehrmals die Firma. Schließlich landet er im Stahlwerk HKM im Süden Duisburgs. Dort arbeitet er bis zur Rente als Rangierer.
Hasan Özen ist einer von rund 14 Millionen Menschen, die als sogenannte Gastarbeiter nach Deutschland gekommen sind.
1955 schloss die Bundesrepublik mit Italien das erste Anwerbeabkommen. Im Wirtschaftswunderland fehlten Arbeitskräfte. Es folgten Abkommen mit Spanien, Griechenland, der Türkei, Marokko, Südkorea, Portugal, Tunesien und Jugoslawien.
Der Begriff „Gastarbeiter“ oder „Gastarbeiterin“ ist bis heute schillernd – und unzutreffend. Schon allein deshalb, weil zwar rund 11 Millionen von ihnen wieder in ihre Heimatländer zurückkehrten, viele aber auch in Deutschland blieben. Sie gründeten Familien oder holten Kinder nach.
„Migrantinnen und Migranten sind nicht als ‚Gäste in unser Haus‘ gekommen. Sie haben das Haus mit aufgebaut“, sagt Christiane Benner, Zweite Vorsitzende der IG Metall. „Als Trockenbauer haben sie das Fundament gegossen, als Stahlkocher die Streben gemacht und als Textilarbeiterinnen die Polstermöbel gefertigt. Und das Auto, das vor dem Haus parkt, haben sie zusammengeschraubt.“
Viele Betriebe gäbe es ohne die Arbeit der „Gastarbeiterinnen“ und „Gastarbeiter“ heute wohl nicht mehr. Gedankt wurde es ihnen selten. Heimisch wurden viele von ihnen lange nicht. Diskriminierung bei Job- und Wohnungssuche gehörte zum Alltag – und tut es heute noch.
Zu den wenigen Orten des Ankommens gehörten der Betrieb und die Gewerkschaften. Eine aktuelle Studie der IG Metall zeigt: Lange Zeit hatten Migrantinnen und Migranten nur dort eine Chance auf demokratische Teilhabe. Wer in jungen Jahren nach Deutschland kam, konnte in den Gewerkschaften Gemeinschaft erleben. Fast alle in der Studie Befragten beschreiben die IG Metall als politische Heimat oder Solidargemeinschaft. In den Branchen der IG Metall traten bis 1975 mehr als die Hälfte der ausländischen Arbeitskräfte der Gewerkschaft bei.
Heute sind Menschen mit Migrationsgeschichte in der IG Metall genauso stark vertreten wie in der Gesamtbevölkerung: Fast jedes vierte Mitglied hat einen Migrationshintergrund.
Noch auffälliger ist das Bild bei Betriebsräten, Vertrauensleuten, Schwerbehindertenvertretungen. Dort sind Metallerinnen und Metaller mit Migrationshintergrund besonders stark vertreten: Rund 34 Prozent der IG Metall-Vertrauensleute haben zum Beispiel eine Migrationsgeschichte. Bei Betriebsratsmitgliedern sind es 25 Prozent.
Auch Hasan Özen hat sich zeitlebens um die Belange seiner Kolleginnen und Kollegen gekümmert. Seinen ersten Einsatz als Interessenvertreter hat er schon kurz nach seiner Ankunft: Viele seiner ausländischen Kollegen, erzählt er, arbeiten damals ausschließlich in der Frühschicht, wo sie weniger verdienen. Hasan geht zum Betriebsrat und bewirkt eine gerechtere Schichtplanung. Es ist der Startschuss für sein lebenslanges gewerkschaftliches Engagement.
Betriebsrat kann er aber erst nach 1972 werden. Damals reformiert die Bundesregierung das Betriebsverfassungsgesetz: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ohne deutschen Pass erhalten das passive Wahlrecht, können also für den Betriebsrat kandidieren. Hasan nutzt das neue Recht sofort.
Fünf Jahrzehnte später blicken die Enkel der ersten Gastarbeitergeneration mit gemischten Gefühlen auf das Leben ihrer Großeltern zurück.
„Was mein Opa für uns getan hat werde ich ihm nie vergessen“, sagt Burcu Sicilia, deren Großvater ebenfalls aus der Türkei nach Deutschland kam. „Wenn er nicht den Mut gehabt hätte, den ‚German Dream‘ in Angriff zu nehmen, wäre ich heute nicht hier.“
Die Metallerin, Jahrgang 1991, sieht aber auch die andere Seite: Eigene Erinnerungen an den Großvater hat sie kaum. Er starb als sie vier Jahre alt war. „Mein Opa hat in der Drahtindustrie unter sehr harten Bedingungen gearbeitet, viel Dreck, kein Arbeitsschutz“, sagt sie. „Er hat sein Leben lang gebuckelt, nach kurzer Zeit in der verdienten Rente war er tot.“
Burcu hat bei Volkswagen in Wolfsburg ein Duales Studium absolviert. Sie hat im Einkauf gearbeitet, engagiert sich im Betriebsrat. Ihr berufliches Leben hat mit dem ihres Opas nur noch wenig gemeinsam. Aber die Migrationsgeschichte ihrer Familie spielt für sie immer noch eine Rolle. In der Schule sagte ihr eine Lehrerin einmal, sie könne in Deutsch keine Eins bekommen, weil sie keine Deutsche sei.
Diese Erfahrung – nicht „normal“ zu sein – machen Menschen mit Migrationsgeschichte bis heute. Noch immer ist es eine Nachricht, wenn Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ehemaligen Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern öffentlich dankt und sagt: „Sie haben an diesem Land seit Jahrzehnten mitgebaut und tun es noch heute. Ihnen verdankt dieses Land sehr viel.“
Hasan Özen, der „Gastarbeiter“ der ersten Generation, hofft, dass das irgendwann nicht mehr betont werden muss. Dass es einfach selbstverständlich ist.