Zehn Jahre nach der Finanz- und Wirtschafts- sowie der darauffolgenden Euro-Krise steht die EU erneut vor einer Zerreißprobe. Zur Bekämpfung der Corona-Pandemie wurden die Volkswirtschaften weitestgehend in ein künstliches Koma versetzt. Dabei trifft es die Schwächsten in Europa wieder einmal am härtesten: Beschäftigten droht der Verlust des Arbeitsplatzes, Ältere, die sich nicht mehr selbst versorgen können, Alleinstehende ohne Betreuungsmöglichkeiten, Obdachlose ohne Zugang zu Hygieneversorgung und nicht zuletzt die vielen Flüchtlinge in den Auffanglagern unter anderem in Griechenland und in der Türkei, die fast ohne jegliche medizinische Hilfe der Epidemie ausgeliefert sind.
Alle Länder der EU stehen angesichts der Pandemie vor enormen Herausforderungen. Und kein Land der EU, egal wie finanziell gut aufgestellt, kann derzeit sicher sein, in Zukunft nicht auf die finanzielle oder materielle Hilfe der Staatengemeinschaft angewiesen zu sein. Das gilt insbesondere für die Länder des europäischen Südens, die noch die Schuldenlast der Hilfsmaßnahmen aus der letzten Wirtschaftskrise abtragen.
Spanien, Italien – und absehbar weitere Mitgliedstaaten – brauchen dringend die gemeinschaftliche Hilfe der EU. Die Berichte unserer Schwestergewerkschaften besorgen uns zutiefst. Das Personal im teilweise kaputtgesparten Gesundheitswesen und zur Aufrechterhaltung der gesellschaftlich notwendigen Dienste ist am Rande der Erschöpfung. Die benötigten medizinischen, wirtschaftlichen und sozialen Hilfsmaßnahmen erfordern schon heute eine massive Neuverschuldung, die auch noch lange nach Abklingen der akuten medizinischen Krise zur Stützung der Konjunktur und sozialer Maßnahmen nötig sein wird.
Es muss vermieden werden, dass die Corona-Krise zu einer zweiten Staatsschuldenkrise wird, die weitreichende Auswirkungen auf die europäische Union und die Eurozone hätte. Die aktuelle Krise bedarf deshalb eines gemeinsamen starken Signals an die Finanzmärkte, dass Spekulationen gegen die Eurozone oder einzelne Mitgliedstaaten keinen Sinn machen. Die Kreditlinien des ESM wurden bereits erweitert. Es muss sichergestellt werden, dass sie langfristig und ohne Strukturreformen in Anspruch genommen werden können.
Neben den bereits beschlossenen Aufkaufprogrammen der EZB muss aber zudem die Möglichkeit der Nutzung gemeinsamer europäischer Staatsanleihen – sogenannter Eurobonds – geschaffen werden. Nur so können Spekulationen gegen den Zahlungsausfall der betroffenen Länder an den Finanzmärkten effektiv unterbunden werden. Zuletzt haben sich die sieben führenden Ökonomen – darunter auch Michael Hüther vom arbeitgebernahen Institut der Wirtschaft – für gemeinschaftliche Schuldtitel zur Bewältigung der europäischen Krise ausgesprochen. Und mittlerweile heißen 14 Mitgliedsländer des Euroraums die Einführung von Eurobonds willkommen oder wollen diese nicht mehr blockieren. Die Skeptiker und Gegner, zu denen unter anderem Deutschland und die Niederlande zählen, sind schon jetzt in der Minderheit.
Es liegt in unser aller Interesse, besonders betroffenen Volkswirtschaften in Europa beizustehen: Die Wertschöpfungsketten spannen sich über den gesamten Kontinent, weshalb ein Wiederanfahren der Produktion nur im europäisch abgestimmten Gleichklang möglich ist – und Solidarität unter Nachbarn darf sich nicht in Grußbotschaften erschöpfen.
Gerade Deutschland ist in der derzeitigen Krise auch in der Verantwortung, dass das Versprechen unbegrenzter Solidarität („Whatever it takes“) in der europäischen Union keine leere Worthülse bleibt. Die Europäische Solidarität ist kein Versprechen für Schönwetterzeiten. Wieviel der europäische Gedanke Deutschland und den anderen Mitgliedsstaaten wirklich wert ist, muss sich gerade in Krisenzeiten zeigen. Die jetzt getroffenen Entscheidungen in der Corona-Krise werden über das Bild Deutschlands in der EU, den Wert europäischer Solidarität und nicht zuletzt über das Schicksal des europäischen Projekts entscheiden.
Solidarität ist der Grundpfeiler unseres gewerkschaftlichen Selbstverständnisses. Die IG Metall fordert die Bundesregierung und die Institutionen der Europäischen Union daher auf, die Nutzung gemeinschaftlicher Instrumente, wie zum Beispiel die Einführung von Eurobonds zu ermöglichen und damit die finanzielle Handlungsfähigkeit der Staaten abzusichern und die wirtschaftlichen, sozialen und gesundheitlichen Folgen der Krise für die Menschen abzumildern.