Einer winzigen Elite von schier unvorstellbar Reichen stehen in den USA Millionen Menschen gegenüber, die keine Krankenversicherung haben. Lobbyorganisationen mächtiger Konzerne geben Milliarden an Wahlkampfspenden aus, aber Arbeitgeberverbände gibt es keine. Flächentarifverträge Fehlanzeige.
Während bei uns Beschäftigte, die in einem Betrieb ohne Tarifvertrag arbeiten, zumindest einen Betriebsrat gründen können, steht Amerikanern dieses nicht zu. Nach US-Recht wäre ein Betriebsrat illegal, weil das Gremium nicht als vom Arbeitgeber unabhängige Organisation gilt. Neben allen Regelungen, die man auch aus deutschen Tarifverträgen kennt, müssen also auch Interessensvertretungsstrukturen in Amerika per Tarifvertrag vereinbart werden. Dasselbe gilt für die Kranken- und Rentenversicherung.
Wo es starke Gewerkschaften gibt, also zum Beispiel bei den großen drei Autoherstellern Ford, General Motors und Fiat-Chrysler, vereinbart die Gewerkschaft Standards und Interessenvertretungsstrukturen, die mit den deutschen sehr vergleichbar sind. Vertrauensleute übernehmen die Aufgaben, die bei uns Betriebsräte leisten.
In Deutschland sind wir es gewohnt, dass man einer Gewerkschaft einfach beitreten kann. Das ist in den USA in aller Regel nicht so. Beschäftigte eines Betriebs müssen per mehrheitlicher Abstimmung vor der Arbeitsbehörde nachweisen, dass sie eine Gewerkschaft wollen. Als Regel gilt 50 Prozent plus 1 Stimme. Wenn sich also keine Mehrheit der Beschäftigten eines Betriebs für die Gewerkschaft entscheidet, gibt es nichts.
Bei einer erfolgreichen Anerkennungswahl ist noch lange kein Tarifvertrag erreicht, sondern nur, dass der Arbeitgeber mit der Gewerkschaft verhandeln muss. Im Idealfall steht am Ende ein Tarifvertrag. Die gewerkschaftliche Organisation im Betrieb wird „local“ genannt. Wenn die Amerikaner von ihrer „local“ sprechen, meinen sie damit eine Mischung zwischen Betriebsrat und Geschäftsstelle. Das System der Anerkennungswahl wurde 1935 ins Leben gerufen, um gewerkschaftliche Organisierung zu erleichtern. Durch gesetzliche Verschlechterungen und eine milliardenschwere Anti-Gewerkschaftslobby ist heute die Hürde für gewerkschaftliche Vertretung so hoch wie in keinem anderen westlichen Land.
Nach Jahrzehnten der Zurückdrängungen liegt der Organisationsgrad in der Privatwirtschaft nur noch bei knapp 7 Prozent mit der Folge, dass mehr als 40 Prozent der amerikanischen Arbeitnehmer mit Niedriglöhnen auskommen müssen. Das Problem ist so groß, dass sich eine Massenbewegung mit Namen „Fight for 15“ gegründet hat, die den Mindestlohn auf 15 Dollar anheben will und die massive Ungleichheit eines der wichtigsten Themen im Land geworden ist.
In jüngster Zeit gibt es also Anlass zu Hoffnung. Einige Gewerkschaften wachsen wieder, darunter auch die Automobilgewerkschaft UAW. Laut Umfragen gehen die Zustimmungswerte für Gewerkschaften deutlich nach oben. Eine Mehrheit der Amerikaner will eine gewerkschaftliche Vertretung, und immer mehr von ihnen sind auch bereit dafür zu kämpfen. So haben tausende Fast-Food-Arbeiter Anfang November in rund 500 Städten eindrucksvoll für eine Erhöhung des Mindestlohns auf 15 Dollar gestreikt oder protestiert. Aktuell liegt das niedrigste Niveau bei 7,25 Dollar. Auch im gewerkschaftsfeindlichen Alabama haben sich die Beschäftigten des Autozulieferers Commercial Vehicle Group der UAW angeschlossen und eine Anerkennungswahl gewonnen. Auch sie wollten nicht länger Armutslöhne von 9,70 Dollar ertragen.