9. März 2021
Interview zu Verschwörungstheorien
„Verschwörungsglaube ist eine dunkle Ressource“
In der Corona-Pandemie haben Verschwörungstheorien Konjunktur. Der Sozialpsychologe Oliver Decker erklärt, wie diese Mythen auf die menschliche Psyche wirken – und warum er mehr Demokratie in den Betrieben fordert.

Was macht Verschwörungsmythen so attraktiv?

Oliver Decker: Wer an sie glaubt hat das Gefühl, die Kontrolle über das eigene Leben zurückzugewinnen. Die Fronten klären sich: Es gibt eine gute und eine böse Seite – und man selbst stellt sich auf die gute. Alles, was passiert, wird erklärbar. Das Gefühl der Unsicherheit fällt weg. Das menschliche Tun erscheint plötzlich nicht mehr als unwägbar und offen. Das kann eine große Erleichterung sein.


Verschwörungsmythen helfen also der Psyche?

Decker: Ja. Man kann Aggressionen ableiten. Man hat einen Feind, auf den man negative Gefühle richten kann. Die Coronapandemie ist dafür ein gutes Beispiel: Viele Menschen fühlen sich ausgeliefert. Wer die Pandemie mit Verschwörungen erklärt, bekommt Klarheit und auch eine Idee, was zu tun ist.


Ist das nicht verständlich?

Decker: Natürlich. Dieses Bedürfnis ist sehr menschlich. Alle Menschen ringen mit den Bedingungen, unter denen sie leben. Sie wollen Erklärungen. Die Verhältnisse sind ja tatsächlich schwer zu verstehen. Und viele Menschen machen die Erfahrung, dass sie an Entscheidungen nicht beteiligt werden.


Inwiefern?

Decker: Zum Beispiel in der Arbeitswelt. Wir sind einerseits Bürgerinnen und Bürger, aber da, wo wir uns die meiste Zeit aufhalten – im Betrieb, in der Schule, in der Uni – sind wir in starre Hierarchien eingebunden, in autoritäre Strukturen. Viele Bereiche unserer Gesellschaft sind nicht mal ansatzweise demokratisch. Das führt zum Gefühl, nicht anerkannt und nicht gehört zu werden. In Sonntagsreden ist viel vom Wert der Demokratie die Rede. Aber in vielen Lebensbereichen ist sie gar nicht realisiert. Es fehlt an Beteiligungsmöglichkeiten.


Wie kann man die schaffen?

Decker: Zum Beispiel sollte die Mitbestimmung der Beschäftigten in den Betrieben ausgebaut werden. Wer im Betrieb die Erfahrung macht, sich beteiligen zu können, verfällt seltener in Verschwörungsgläubigkeit und Vorurteile. Man muss Mitbestimmungsrechte nicht wahrnehmen. Aber sie müssen existieren.



Zur Person: Oliver Decker ist Professor für Sozialpsychologie und interkulturelle Praxis an der Sigmund-Freud-Universität Berlin. Er leitet die „Leipziger Autoritarismus Studien“ zu rechtsextremen Einstellungen in Deutschland.

 

Sie sagen: Verschwörungsanhänger wollen mitbestimmen – also mehr Demokratie. Gleichzeitig fordern viele von ihnen eine „harte Hand, die durchgreift“. Wie passt das zusammen?

Decker: Das ist ein Widerspruch. Aber es funktioniert trotzdem. Wer so denkt ist ein autoritärer Rebell. Er begehrt scheinbar gegen die Autorität auf. Wünscht sich aber gleichzeitig eine stärkere Autorität. An dieser Autorität will man dann teilhaben. Sie macht einen scheinbar stärker und machtvoller. Verschwörungsglaube ist eine dunkle Ressource, die sich anzapfen lässt, um die tägliche erlebte Unsicherheit zu bewältigen.


Sind Verschwörungsgläubige automatisch Antidemokraten?

Decker: Nein. Solche Urteile über Menschen fälle ich nicht. Ich will auf Denkfehler hinweisen: Der Verschwörungsglaube erklärt Dinge, die man nicht versteht, mit bestimmten Personen, die im Hintergrund angeblich die Fäden ziehen. So funktioniert eine Demokratie aber nicht. In einer Demokratie sind an jeder Entscheidung viele unterschiedliche Personen und Gruppen beteiligt. Das ist sehr komplex und manchmal schwer nachzuvollziehen. Verschwörungserzählungen blenden diese Komplexität aus. Das ist eine Art Kurzschluss. Die Leute denken dann nicht mehr weiter.


Warum ist das problematisch?

Decker: In einer Demokratie gibt es keine unangefochtene Autorität. Demokratie heißt immer: Verhandlung, Unsicherheit, Kompromiss. Politiker, die absolute Autorität versprechen, können das nicht einlösen – zumindest nicht innerhalb eines demokratischen Staates. Solche Politiker sind Darsteller der Wünsche ihres Publikums, eine Art Schauspieler. Donald Trump ist so ein Politiker: Er versprach absolute Kontrolle. Aber die kann und darf es nicht geben.


Welche Fehler sollte die Politik im Umgang mit Verschwörungsmythen vermeiden?

Decker: Politik darf nicht als alternativlos dargestellt werden. Es muss einen Ort geben, an dem zwischen den vielen verschiedenen Interessen vermittelt wird – für alle sichtbar. Idealerweise passiert das in den Parlamenten. Und das Engagement der Menschen, ihr Interesse an der politischen Auseinandersetzung sind dann das Rückgrat, das Politiker brauchen.


Was ist mit der Unsicherheit, die Marktwirtschaft mit sich bringt: Müssen wir den Markt bändigen?

Decker: Ein entfesselter Markt fördert das Gefühl, ausgeliefert zu sein. Das Ausgeliefertsein gibt es ja tatsächlich. Damit muss man umgehen. Deshalb ist die soziale Staatsbürgerschaft so wichtig. Menschen wollen Antworten auf Fragen wie: Werde ich aufgefangen? Wie viel soziale Sicherheit habe ich? Es geht darum, dass man sich als handlungsfähiges und unabhängiges Wesen fühlen kann. Wer aus dem Betrieb fliegt und in Hartz IV rutscht, verliert manche Staatsbürgerrechte. Er fällt nicht aus der Gesellschaft – im Gegenteil! – er wird ihrem Zugriff viel stärker ausgeliefert. Die Freiheit gegenüber staatlichen Zugriffen ist aber für eine Demokratie zentral.


Welche Rolle spielt Geld?

Decker: Die eigene ökonomische Lage ist nicht entscheidend für den Glauben an Verschwörungen. Vielen Verschwörungsanhängern geht es wirtschaftlich gut. Entscheidend sind auch fehlende Mitbestimmung und Anerkennung. Wir haben Industriebürger zweiter Klasse, zum Beispiel Leiharbeiter. Das widerspricht dem Gleichheitsprinzip der Demokratie. Wir müssen Demokratie radikal demokratisch denken.


Wie sollte man reagieren, wenn ein Kollege im Betrieb Verschwörungserzählungen äußert?

Decker: Ich würde das Gespräch suchen. Nehmen wir das Beispiel „Umvolkung“ – also die Idee, dass dunkle Mächte das deutsche Volk systematisch „austauschen“ wollen. Wenn mir jemand sowas erzählt, würde ich nachfragen: Was meinst Du damit? Was ist mit unserem langjährigen Kollegen Sedat da hinten? Ist der für Dich auch ein Problem? Man muss solche Theorien mit dem Alltag verknüpfen. Vielleicht gibt es einen konkreten Kritikpunkt, der überhaupt nichts mit einem großen  Geheimplan zu tun hat – und den man gemeinsam lösen kann.


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