13. Oktober 2011
Robert Misik zum Zukunftsreferat von Berthold Huber
Was ist „linker Reformismus“?
Auf die IG Metall richten sich dieser Tage wieder alle Augen. Und das hat nicht nur mit ihrem Gewerkschaftstag zu tun. Denn, mit Verlaub: Alle paar Tage hat irgendeine Gewerkschaft einen Gewerkschaftstag – ohne dass davon irgendjemand besondere Notiz nimmt. Aber mit der IG Metall ist das anders.

Erstens, weil sie mit rund 2,25 Millionen Mitgliedern immer noch die größte Gewerkschaft der Welt ist.

Zweitens, weil die IG Metall immer schon eine der „fortschrittlichsten“ Gewerkschaften war, wenn wir unter fortschrittlich einmal verstehen, dass sie, auch wenn sie wie jede große Organisation auch ihre strukturkonservativen Seiten haben mag, doch immer ein Sensorium für neue Fragen hatte und sich offen zeigte, Dinge, die man bisher auf eine bestimmte Weise machte, auf neue Weise zu machen, auf zeitgemäßere Weise.

Drittens aber, weil dieses Zeitgenössische an der IG Metall ganz offensichtliche, messbare Erfolge zeitigt. „Mit unorthodoxen Mitteln wirbt die IG Metall um neue Mitglieder – und hat Erfolg“, titelte vergangene Woche etwa die Hamburger „Zeit“. Solche Schlagzeilen sind selten, wenn es um Gewerkschaften geht. 4000 Mitglieder mehr als vor einem Jahr, davon die meisten unter 27 Jahren.

Die IG Metall als größte „Jugendorganisation des Landes“. Da fragt man sich in Redaktionshäusern, in denen man gewohnt ist, über Mitgliederschwund zu berichten, wenn es um Parteien, Gewerkschaften, Kirchen oder die Freiwillige Feuerwehr geht.

Wie ist das denn möglich? Es ist offenbar möglich, wenn man sich nicht wie ein verstaubter Apparat aus dem vergangenen Jahrhundert präsentiert, sondern neue Methoden des „Organizing“ ernst nimmt.

Das ist allein schon bemerkenswert. Aber obgleich Organisationen dazu neigen, die Selbstreproduktion sehr wichtig zu nehmen, sind sie natürlich kein Selbstzweck. Mehr Mitglieder ist schön. Aber wenn man die Frage nicht beantworten kann: „Mehr Mitglieder wozu?“ Dann ist eine erfreulichere Beitragszahlerstatistik allein natürlich keine besonders fortschrittliche Sache. Gewerkschafter haben sich traditionell auf ihr Kerngeschäft orientiert: Organisierung der Mitglieder zum Vorteil der Mitglieder – in Tarifsachen, in Arbeitszeitfragen, in Fragen der betrieblichen Arbeitsorganisation.

Das hatte eine beinahe hundertjährige Tradition in der Geschichte der Arbeiterbewegung, jedenfalls im deutschsprachigen Raum: da gab es auf der einen Seite linke Parteien, die waren für die „Vision“ und die „große Politik“ zuständig, und auf der anderen Seite die Gewerkschaften, die waren für die handfesten Fragen der praktischen Praxis zuständig. Aber das hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren verändert. Nicht nur, aber nicht zuletzt auch in der IG Metall. Gewerkschaften fragen nicht mehr nur: Wie schaffen wir es, dass unsere Mitglieder mehr Geld am Lohnzettel haben? Sie fragen zunehmend: Wie soll eine lebenswerte Gesellschaft aussehen?

Das „Zukunftsreferat“ des IG Metall-Vorsitzenden Berthold Huber ist paradigmatisch für diese Veränderung. „Gutes Leben gelingt nur in einer freien und gerechten Gesellschaft“, heißt es hier etwa. Der Begriff des „guten Lebens“ zieht sich wie ein roter Faden durch Hubers Rede. Ein gutes Leben, als eines, in dem jeder seine Talente entwickeln, seine „Lebensentwürfe selbst bestimmen“ kann, in Freiheit – aber eine Freiheit, die von Voraussetzungen lebt: Von Bildung, guter Arbeit, mit einer gerechten Entlohnung, von der man sicher leben kann, so dass man auf dieser Sicherheit auch seine Lebensentwürfe grundieren kann, ohne Angst haben zu müssen, schon morgen aus der Bahn geworfen zu werden. „Was ist das für eine zynische Ökonomie, in der Leiharbeit nicht mehr unter Personalausgaben, sondern unter Materialeinkauf verbucht wird?“

Nun ist es freilich so, dass die Rede vom „guten Leben“ schnell unter Naivitätsverdacht steht, und zwar von zweierlei Seiten. Einerseits von neoliberal und neokonservativ: Da werden Sozialreformer gerne als unrealistische Schwärmer dargestellt, die keine Ahnung haben vom harten Kampf jeder gegen jeden am Schlachtfeld der Ökonomie. Und andererseits von links: Gutes Leben, das sei doch „im Kapitalismus“ gar nicht verwirklichbar. „Der Kapitalismus“ sei doch prinzipiell ungerecht, behandelt grundsätzlich alles und jeden als Ware, und wer das nicht einsehen mag der ist ein Warmduscher, der nicht klar zu sehen vermag.

Der Begriff des „linken Reformismus“, den Huber hochhält, wendet sich gegen beide Seiten. „Wenn ich für einen linken Reformismus plädiere“, sagt er, „dann ist der Unterschied zum Neoliberalismus nicht auf die Frage ’Marktwirtschaft ja oder nein’ zu reduzieren. So simpel ist die Welt nicht.“

Mir scheint gerade das der Punkt zu sein: Wäre ein gutes Leben, eine Ordnung, in der alle ein auskömmliches Leben führen und ihre Talente und ihre Träume realisieren können, in einer kapitalistischen Marktwirtschaft grundsätzlich unmöglich zu realisieren, wären das gewissermaßen Kategorien, die quer und extern zum System der Ökonomie stünden, dann würde „linker Reformismus“ ja, eigentlich jeder „Reformismus“ – auf tönernen Füßen stehen.

Tatsächlich sind sich Neoliberale und Antikapitalisten, auch wenn das nicht sofort auffällt, in einem einig: Die einen sagen, Marktwirtschaft ist ein harter Kampf alle gegen alle, bei denen manche siegen und die anderen auf der Strecke bleiben – und das ist gut so. Die anderen sagen, Marktwirtschaft ist ein harter Kampf alle gegen alle, bei denen manche siegen und die anderen auf der Strecke bleiben – und das ist schlecht so. Aber der linke Reformismus sagt: Beide haben unrecht.

Nun war diese linke Fundamentalkritik in den vergangenen Jahrzehnten nicht sonderlich geschichtsmächtig, ihr missratener Bruder, der Neoliberalismus aber sehr wohl: Nur indem man die Märkte entgrenzt und frexibilisiert und Gesellschaften dem harten Wirbelwind der „schöpferischen Zerstörung“ aussetzt, schaffe man Wohlstand und Prosperität, lauteten seine Postulate. Umverteilung, ein starker Staat, ein solidarisches Gemeinwesen, all das wäre ein Klotz am Bein der Wirtschaft.

Aber das ist falsch, und seitdem diese Ideologie die Marktwirtschaft an die Wand gefahren hat, ist es wieder leichter, deutlicher zu machen: Mehr Gerechtigkeit und soziale Reformen, die möglichst allen Menschen die Möglichkeit geben, aus ihrem Leben etwas zu machen, machen eine Marktwirtschaft funktionstüchtiger. Es sind keine Ziele, die „der Wirtschaft“ nur parasitär abgerungen werden. Es sind Ziele, die, wenn man sie realisiert, die Wirtschaft stärken. Umgekehrt heißt das dann natürlich auch: Selbstverständlich sind das Ziele, die innerhalb einer kapitalistischen Marktwirtschaft realisiert werden können.

Das klingt jetzt simpel. Aber sehr viele linke Kritiker, auch Gewerkschafter, haben das immer noch nicht ausreichend verstanden. Wenn man ihnen das plausibel und mit Nachdruck auseinandersetzt und sie auch überzeugt, dann sagen sie oft, wie mir das unlängst etwa geschehen ist: „Das heißt, wir sind eigentlich die, die den Kapitalismus funktionstauglich und lebensfähig machen? Ich sehe es ein, aber es irritiert mein Weltbild sehr.“

Aber gleichzeitig vermag dieser linke Reformismus auch Ziele zu formulieren, und Energie freizusetzen, um sie zu erreichen. Neoliberalismus und harter Antikapitalismus passivieren ja die Bürger: Die Neoliberalen, indem sie sagen, man müsse die Widrigkeiten einfach hinnehmen. Die Kapitalismuskritiker, indem sie sagen, diese Widrigkeiten seien nur durch einen radikalen Systembruch aus der Welt zu schaffen – einen Systembruch, an den ohnehin niemand glaubt.

Linker Reformismus sagt, dass Weltverbesserung mit vielen kleinen Schritten in einer Perspektive von zehn, zwanzig Jahren möglich ist – und dass das sogar sehr gut möglich ist. Und unter den Bedingungen der tiefen systemischen Krise, in die uns der Neoliberalismus geritten hat, sagt er sogar: Es ist nicht nur eine Möglichkeit, es ist eine Notwendigkeit, wenn wir unser Volkswirtschaften wieder auf stabilen Prosperitätskurs bringen wollen.


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