31. Oktober 2015
Einfluss wirtschaftlicher Interessengruppen in Schulen
Die Wirtschaftslobby drängt in die Schulen
Unternehmen und Wirtschaftslobbyverbände drängen an die Schulen. Mit Lernmaterial, Experten für den Unterricht und Fortbildungen für Lehrer. Ihre Ziele: Werbung für die eigenen Produkte machen. Und Schüler von der Pike zum unternehmerischen, marktradikalen Denken erziehen.

Mit fast einer Million Lernmaterialien stoßen Unternehmen und Wirtschaftslobbyverbände in die Kitas und Klassenzimmer vor. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Universität Augsburg. Neben Material bietet die Wirtschaft auch Experten für den Unterricht und Fortbildungen für Lehrer an.
Die Wirtschaft will zum einen für ihre Produkte werben. Der Versicherungskonzern Allianz etwa lehrt spielerisch den Umgang mit Versicherungen über ein Planspiel, natürlich mit Allianz-Produkten. Der Schokoladehersteller Ritter Sport bietet Unterrichtseinheiten für Grundschüler an, natürlich mit einem Spiel, bei dem die Lehrerin Ritter-Sport-Stückchen verteilt. Das Bombardement mit Werbung setzt bereits im Kindergarten ein: Lego verbreitet dort ein eigenes Erzählbuch für die Kleinen, natürlich mit Lego-Produkten.
Zum anderen verfolgt die Wirtschaftslobby das Ziel, Schüler zum unternehmerischen marktkonformen Denken zu erziehen. Verbände wie die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), das Institut der Deutschen Wirtschaft (IW), der Bundesverband deutscher Banken (BdB) oder die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) bieten dazu eigene Unterrichtsreihen an. Auf Plattformen wie „Wirtschaft und Schule“. Auch die Zeitung „Handelsblatt“ mischt mit der Plattform „Handelsblatt macht Schule“ mit im Netzwerk der Lobby.

Marktradikale Inhalte für den Wirtschaftsunterricht
Schon seit langem fordert die Wirtschaftslobby ein eigenständiges Fach Wirtschaft – das in einigen Bundesländern nun kurz vor der Einführung steht. Ökonomische Bildung nach Geschmack der Wirtschaftslobby sieht so aus: Sozialstaat, Mitbestimmung und somit auch Gewerkschaften sind schlecht, und müssen „reformiert“, das heißt zurückgedrängt werden. Schüler sollen zu „Wirtschaftsbürgern“ und zum Unternehmertum erzogen werden. Das hat der Gemeinschaftsausschuss der Deutschen Gewerblichen Wirtschaft, in dem alle Wirtschaftsverbände vertreten sind, als Leitlinie für den künftigen Wirtschaftsunterricht festgelegt.
Und so sehen die Materialien der Wirtschaftslobby auch aus:
„Der Sozialstaatsgedanke ist in den letzten Jahrzehnten vielfach überstrapaziert worden [...] und der Umbau der Sozialsysteme deshalb dringend notwendig“, heißt es in der Unterrichtseinheit „Sozial gerechte Marktwirtschaft“ der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft. In ihrem „Schnupperkurs in Sachen Ökonomie“ schreibt die INSM: „Man ist weder Moralapostel noch Neoliberaler oder gar ein Gegner des Staates, wenn man die wahnwitzige staatliche Umverteilung an den Pranger stellt.“
In der Unterrichtseinheit „Mitbestimmung in Deutschland“ des IW und der Bundesarbeitsgemeinschaft Wirtschaft und Schule, hinter der wiederum die BDA steckt, heißt es: „Bei der so genannten Unternehmensmitbestimmung in Deutschland gibt es erheblichen Reformbedarf.“ Der wirtschaftliche Erfolg müsse vor dem Hintergrund des internationalen Standortwettbewerbs in den Vordergrund rücken.

Die Wirtschaftslobby wirft ihre Netze in die Schulen aus
Die Wirtschaft schickt nicht nur Material. Sie bildet auch vor Ort aus. Die Allianz etwa kommt direkt in die Schule. Dort machen Allianz-„Experten“ Unterricht. Dazu hat die Allianz gemeinsam mit der Unternehmensberatung McKinsey die Initiative „My Finance Coach“ gegründet. Nicht nur die Schüler sind das Ziel. „My Finance Coach“ bildet auch Lehrer fort – ganz offiziell, etwa an der staatlichen Akademie im bayerischen Dillingen. Mit mehreren weiteren Bundesländern laufen Verhandlungen über Kooperationen.
Die Allianz ist keineswegs alleine: Es gibt mittlerweile zahlreiche Kooperationen, etwa über die „Bundesarbeitsgemeinschaft Schule/Wirtschaft“. In Hessen etwa ist die Lehrerfortbildung ohnehin schon dereguliert und offen für die zumeist attraktiven Angebote der Wirtschaft.
Und längst hat die Wirtschaftslobby es auch in die regulären Schulbücher geschafft. Die Reihe „Starke Seiten“ des Klett Verlags ist mit Hilfe eines Beraterteams der BDA, des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK) und des Zentralverbands des Deutschen Handwerks (ZDH) entstanden. Gewerkschaften sind nicht im Beraterteam.
Und die Wirtschaftslobby vermarktet ihr Material geschickt: Die Schulbuchreihe „Starke Seiten“ hat letztes Jahr den Preis als „Schulbuch des Jahres ökonomische Bildung“ erhalten. Das Gütesiegel „Schulbuch des Jahres“ wird von der Bundesarbeitsgemeinschaft „Schulewirtschaft“ verliehen, hinter der wiederum BDA und IW stecken. Der diesjährige Preisträger stammt vom Cornelsen Verlag, der wiederum mit „My Finance Coach“ kooperiert.
Die Lobby hat ihre Strippen in das gesamte Schulsystem ausgeworfen und findet dabei Unterstützung in der Politik. Viele Plattformen und Projekte werden von den Ministerien noch zusätzlich mit Steuergeldern gesponsert. Das Bundeswirtschaftsministerium fördert etwa auch die Bundesarbeitsgemeinschaft „Schulewirtschaft“.
Reinhold Hedtke, Sozialwissenschaftler an der Uni Bielefeld, der mit anderen Wissenschaftlern die „Initiative für eine bessere ökonomische Bildung“ (IBÖB) gegründet hat, kommt zu dem Ergebnis, dass die Wirtschaftslobbyisten „zusammen mit einigen Wirtschaftsdidaktikern ein bestens finanziertes politisch-pädagogisches Netzwerk bilden. Seine Akteure und Aktivitäten finden parteipolitische Unterstützung vor allem bei CDU und FDP.“

Alternativen zur neoliberalen Wirtschaftslehre
Die Gewerkschaften und die IBÖB-Wissenschaftler befürchten: Wenn es ein eigenständiges Fach Wirtschaft gibt, dann wird sich die einseitige Sicht der Wirtschaftslobby durchsetzen. Dann werden Lehrer auch an vom neoliberalen Mainstream geprägten Wirtschaftswissenschafts-Fakultäten ausgebildet.
Die Folge: Soziale und ökologische Dimensionen wirtschaftlichen Handelns kommen u kurz. Das „Primat des Politischen“ verdreht sich zum „Primat der Ökonomie“. Aus dem „Homo politicus“ wird ein „Homo oeconomicus“, der sein Leben und Handeln rein nach den Interessen der Wirtschaft ausrichtet.
„In den Unterrichtsmaterialien wird dem

Die IBÖB und die die Gewerkschaften hingegen eine interdisziplinäre und praxisorientierte „sozioökonomische Bildung“. Diese behandelt die ökonomischen, sozialen, ethischen, ökologischen und technischen Zusammenhänge von Arbeit und Wirtschaft und bereitet Schülerinnen und Schüler auf eine selbstbewusste und mitgestaltende Rolle in Berufsausbildung und Arbeitswelt.
„Die Wirtschaftslobby präsentiert den Schülern ein abgeschlossenes Gesellschafts- und Menschenbild, in das sie sich einfügen müssen – als ‚homo oeconomicus‘, der in allen Lebenlagen rational, egoistisch und nutzenorientiert handelt“, kritisiert Bettina Zurstrassen, Sozialwissenschaftlerin an der Uni Bielefeld und Mittbegründerin der IBÖB. „Doch tatsächlich gibt es Handlungsalternativen. Und soziale und kulturelle Normen und Werte, die das wirtschaftliche Handeln von Menschen beeinflussen.“
Die Gewerkschaften haben ein eigenes Portal gestartet: Die gewerkschaftseigene Hans-Böckler-Stiftung bietet unter „Boeckler Schule“ Material für Lehrer an.
Ein Tropfen auf den heißen Stein, im Vergleich zu Millionen-Etats und den eine Millionen Materialien der Wirtschaft. Im Internet hat die Wirtschaft klar die Oberhand. Schüler, die nach „Wirtschaft“, „Schule“ und Unterrichtsmaterial suchen, finden ganz oben die Angebote der Wirtschaftslobby: wirtschaftundschule.de, schule-wirtschaft.de, schule-trifft-wirtschaft.de oder andere, etwa vom „Institut für ökonomische Bildung“

Wirtschaftslobby lässt Alternativen zensieren
Und wenn nötig, lässt die Lobby alternatives Material einfach zensieren. Im Februar gab die Bundeszentrale für politische Bildung den Unterrichtsband „Ökonomie und Gesellschaft“ heraus. Der Band entstand unter der wissenschaftlichen Leitung von Bettina Zurstrassen und enthält Beiträge verschiedener Autoren mit verschiedenen auch kritischen Blickwinkeln. Das passte der BDA nicht. In einem geharnischten Brief beschwerte sie sich über die „Propaganda gegen die Wirtschaft“ und verlangte unverblümt, „den Band in dieser Form nicht weiter zu vertreiben“. Das Bundesinnenministerium wies die Bundeszentrale daraufhin an, das Buch aus dem Programm zu nehmen. Monatelang galt der Band offiziell als „vergriffen“.

Erst nach Protesten von Gewerkschaften und Wissenschaftlern hat das Bundesinnenministerium den „vorläufigen Vertriebsstopp“ nun wieder aufgehoben. Ausschlaggebend war vermutlich, dass zwischenzeitlich der Wissenschaftliche Beirat der Bundeszentrale für politische Bildung die Kritik des Arbeitgeberverbands mehrheitlich zurückgewiesen hat. Das bestätigte ein Sprecher von Innenminister Thomas de Maizière (CDU).

Das Buch soll aber künftig mit einem Hinweisblatt versehen werden. Darauf soll vermerkt werden, dass die in dem Band enthaltenen Kapitel nicht das ganze Spektrum der Ansichten zu ökonomischen Fragen widerspiegeln.

Hintergründe zum Zensurstreit um den Band „Ökonomie und Gesellschaft“


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