Peter Bofinger: Nein. Das Problem ist, dass wir besonders in den deutschen Wirtschaftswissenschaften eine sehr ausgeprägte Marktorientierung haben. Sie macht blind für die Schwächen des Marktes und unterschätzt, welche Einflussmöglichkeiten der Staat hat, um bessere Resultate zu erzielen. Das führt dann zu einseitigen Empfehlungen. Ich vertrete oft andere Einschätzungen und habe deshalb in der Vergangenheit zahlreiche Minderheitsvoten abgegeben. Ein Beispiel ist der Mindestlohn.
Ich habe mich über Jahre hinweg für ihn ausgesprochen, meine Kollegen dagegen. Sie argumentierten, er würde Arbeitsplätze vernichten. Die Erfahrungen zeigen, dass das nicht der Fall war. Auch Steuersenkungen halte ich nicht immer für den Stein der Weisen. Verzichtet der Staat auf Einnahmen und betreibt wegen der „schwarzen Null“ eine Sparpolitik, führt das zu Problemen, wie wir sie heute überall erleben: etwa Wohnungsnot, schlecht ausgestattete Krankenhäuser und marode Schulen.
Auch da vertrete ich eine andere Position als die Mehrheit im Sachverständigenrat. Zum Beispiel bei der Batteriezellenproduktion. Da stellt sich doch die Frage: Überlassen wir diese wichtige Zukunftstechnologie China oder unterstützen die europäischen Staaten den Aufbau einer eigenen Entwicklung und Fertigung. Der chinesische Staat ist industriepolitisch hyperaktiv und erzielt damit schon große Vorteile im globalen Wettbewerb. Da ist es naiv darauf zu beharren, dass der Markt alles optimal richtet. Allerdings spricht sich der Sachverständigenrat diesen Herbst in seinem Gutachten auch für einen europäischen Mindestpreis für Kohlendioxid aus, um eine konsequente Umweltpolitik voranzubringen. Und das ist ja eine lenkende Politik der europäischen Staaten.
Gerade Deutschland ist wie kein anderes Land auf Globalisierung ausgerichtet. Deutsche Unternehmen haben die Exporte in Relation zur Wirtschaftsleistung in den vergangenen Jahrzehnten am stärksten ausgeweitet. Die Wirtschaft hat davon profitiert. Darum müssen wir ein großes Interesse daran haben, Europa zu stärken. Aber es muss ein Europa sein, das seine Bürger im globalen Wettbewerb vor unfairer Konkurrenz schützt. Faire Bedingungen gibt es nur, wenn Europa – zum Beispiel mit den USA und China – als starke Einheit verhandeln kann. China verhält sich noch viel protektionistischer als die USA. Es pocht gegenüber anderen Ländern auf freien Handel, praktiziert aber im eigenen Land im Umgang mit ausländischen Investoren das Gegenteil. Es subventioniert die eigenen Industrien mitunter so stark, dass andere Länder im Wettbewerb Nachteile erleiden, wie es beim Stahl drohte, und dass ihnen der Todesstoß versetzt wird, wie wir das in der Solarbranche erlebt haben.