24. September 2013
Gute Arbeit im Netz: „Turkopticon“ für Amazon
Mehr Fairness für die Crowd
Mit „Turkopticon“ können Crowdworker auf Amazons virtuellem Marktplatz für Arbeit ihre Auftraggeber bewerten. Das Reputationssystem hat der Diskussion um gute Arbeitsbedingungen im Netz neue Impulse gegeben. Über die Arbeitsbedingungen spricht Six Silberman auf der IT-Tagung der IG Metall.

Internetseiten testen, Porno-Bilder aus Fotodatenbanken löschen, Korrekturlesen, Visitenkarten abtippen, kleine Programmieraufgaben – auf Amazons virtuellem Marktplatz „Mechanical Turk“ (MT) schreiben Firmen die unterschiedlichsten Arbeiten aus. Schätzungen zufolge bieten dort rund 500 000 Freiberufler ihre Dienste als sogenannte Crowdworker an.

Lilly Irani, Assistant Professor an der UC San Diego, und Six Silberman, Doktorand der Informatik an University of California, haben eine kostenlose Anwendung entwickelt, mit dem jene Crowdworker ihre Auftraggeber bewerten können. Wird gut bezahlt? Werden Arbeitsergebnisse unbegründet abgelehnt? Wird auf Nachfragen geantwortet? Das Plug-in „Turkopticon“ für Webbrowser wie Firefox ermöglicht den „Turkern“, unseriöse Auftraggeber zu melden. Das sorgt für mehr Fairness in der Crowd. Für die Diskussion um bessere Arbeitsbedingungen im Netz ist das Reputationssystem zu einer Inspiration geworden.

In Europa ist „Turkopticon“ noch weitgehend unbekannt. Zur heute beginnenden Engineering- und IT-Tagung der IG Metall in Berlin kommt Six Silberman erstmals nach Deutschland. Mit anderen Experten diskutiert er gewerkschaftliche Perpektiven für die Crowd. Im Interview spricht der 27-Jährige vorab über die amerikanische Geschäftskultur, wie durch das Fuzzy-Konzept „Fairness“ zu einem nebulösen Begriff werden kann und über neuen Ideen zur Arbeit in der Crowd.

Arbeiten Sie viel als „Turker“?

Six Silberman: Nein, ich bin mit meiner Forschungsarbeit ausgelastet. Würde ich mehr als Turker arbeiten, wäre Turkopticon wahrscheinlich besser, weil ich ein besseres Verständnis für die Probleme dort hätte.

Was gab für Sie den Anstoß zu sagen, es muss sich etwas ändern?

Das war 2008 als Lilly auf Mechanical Turk zwei Aufgaben postete. Die erste bestand für die Crowdworker darin, kurze Gedichte zu verfassen. In der Zweiten sollten sie ihre eigenen Bill of Rights formulieren. Daraufhin schrieben viele, es sei unfair, dass Arbeitgeber Ergebnisse ohne Begründung ablehnen können. Also ohne dafür zu bezahlen. Zur gleichen Zeit feierten ITler Mechanical Turk als neue, innovative Technologie. Die Probleme der Turker waren ihnen anscheinend nicht bekannt. Darauf wollten wir aufmerksam machen.

Wie entstand die Idee, die Arbeit in der Crowd durch ein Reputationssystem zu verbessern?

Reputationssysteme sind im Netz weit verbreitet. Beispiele sind eBay oder Amazon. Nach dem wir die Antworten auf Lillys Frage zur Bill of Rights gelesen hatten dachten wir uns, so etwas muss es auch für Arbeitnehmer geben. Wir dachten, so könnten wir auf die Probleme der Turker aufmerksam machen und Amazon würde ein eigenes Bewertungssystem in seine Plattform integrieren. Aber das ist nicht passiert. Stattdessen vertrauen die Crowdworker weiter auf Turkoticon. Und die Chefs von Amazon sagen, dass die Community die Probleme mit den Auftraggebern selbst löst. Doch ein integriertes Programm wäre besser. Dann könnte man angezeigt bekommen, wie viel Prozent der Aufträge ein Arbeitgeber ablehnt.

Wie viele nutzen „Turkopticon“?

Das wissen wir nicht genau. Aber zwischen August 2012 und Mitte September dieses Jahres wurde es 18 170 Mal heruntergeladen. Und 21 160 Leute haben sich über die Web-App registriert. In Relation zu den Hunderttausenden, die auf dem Marktplatz aktiv sind, sind das natürlich kleine Zahlen.

Turkopticon steht auch für mehr Fairness gegenüber den Crowdworkern. Ein Wort, das selten fällt. Was könnte der Grund dafür sein?

Es könnte mit der amerikanischen Geschäfts- und IT-Kultur zutun haben. In den USA gibt es keine Mitbestimmung. Das Management hat viel mehr Macht als die Arbeitnehmer. Letztere werden oft als Kosten gesehen, die es zu minimieren gilt. Da sind die Manager den Aktionären viel näher. Fairness wird als Fuzzy-Konzept verstanden. Dagegen lassen sich Gewinne genau messen. So kann ein Unternehmen immer mit Kosten argumentieren, wenn es darum geht, etwas für mehr Fairness zu tun.

Andere Fragen scheinen besser im Bewusstsein angekommen zu sein.

Fragen wie den Datenschutz oder die Sicherheit nimmt die Informatik ernst. Aber Fairness oder Macht sind in der Tradition nicht verankert. Ein bekannter Informatiker hatte mal zu mir gesagt: Die IT hat eine fast libertäre Kultur: Wenn etwas programmierbar ist, dann hast du das Recht, es zu tun. Also sind Crowdworking Plattformen in Anführungszeichen gut, wenn sie den ITlern Neues ermöglichen. Die Arbeiter sind weit weg und ihre Sorgen leicht zu ignorieren. Selbst wenn jemand eingesteht, dass diese Probleme wirklich vorhanden sind, lässt sich leicht sagen: das Leben ist nun mal nicht fair. Und es ist nicht der Fehler des Programmierers und nicht dessen Aufgabe, das zu ändern. Demnach ist Fairness immer das Problem von jemand anderem.

Wissen Sie, was Amazon oder einzelne Auftraggeber von „Turkopticon“ halten?

Nein, nicht was Amazon betrifft. Von den meisten Arbeitgebern, mit denen wir gesprochen haben, haben wir Zustimmung erhalten. Sie erkennen den Wert hinter der Idee. Aber manche Arbeitgeber haben auch schlechte Erfahrungen gemacht. Manchmal missbrauchen Crowdworker das System. Wir versuchen das zu verhindern, aber immer gelingt uns das nicht.

Glauben Sie, die Auftraggeber verhalten sich jetzt anders?

Allen Arbeitgebern ist Turkopticon gar nicht bekannt. Aber da einige auf Anschuldigungen oder Vorschläge antworten, denke ich, es hat manche Arbeitgeber dazu bewogen, kommunikativer zu sein.

Sie erhalten viel Zuspruch. Worüber freuen sich die Turker am meisten?

Ich kann nicht für die Turker sprechen. Wenn Sie das wissen wollen, dann sollten Sie die Frage auf Mechanical Turk stellen – und die Antworten gut bezahlen (lacht). Wenn ich in die Foren und auf die Antworten zur Bill of Rights schaue, dann möchten sie klare Anweisung, gut und schnell bezahlt werden, auf Fragen Antworten erhalten und keine technischen Probleme.

Wie geht es weiter?

Turkopticon ist kostenlos und wir haben nicht vor, daran etwas zu ändern. Wir haben einige Vorschläge erhalten, was Erweiterungen und Änderungen betrifft. Einige davon sind kaum der Rede wert, andere müssen wir erst mit den Crowdworkern besprechen. Aber ich hoffe, dass Turkopticon eines Tages gar nicht mehr gebraucht wird. Vielleicht wird Amazon ja doch ein gutes Reputationssystem entwickeln. Oder vielleicht wird jemand eine neue Crowdworking-Plattform bauen. Eine, die verantwortungsvoll aufgesetzt ist und auf Mitbestimmung und Transparenz setzt. Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Administratoren könnten dort zusammenarbeiten, damit sich einerseits die Arbeitgeber über gute Ergebnisse freuen können und andererseits Crordworker über gute Arbeitsbedingungen. Dieser Arbeitsmarkt könnte zumindest teilweise den Turkern gehören. Es sind auch andere interessante Modelle vorstellbar. In meiner aktuellen Forschung konstruiere ich Simulationen für alternative Markt-Konzepte. Das ist zwar nur Theorie, aber ich hoffe es kann dazu beitragen, dass Crowdworking in Zukunft effektiver, effizienter und fairer wird.


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