21. Juli 2015
Frank Lübberding über die Demokratisierung der Wirtschaft
Wertschätzung
Industrie 4.0 ist weit mehr als die Digitalisierung von Produktionsprozessen. Sie ist nur zu verstehen, wenn man die Beschäftigten in die Gestaltung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen aktiv einbezieht.

Von Frank Lübberding

Das Smartphone – der Computer im Kostüm eines Telefons – ist heute schon weitgehend zum Standard geworden. Die Digitalisierung von Lebenswelten ist damit schon längst vollzogen, wenn auch deren Folgen den meisten Menschen nicht klar sind. Sie nutzen schlicht die technologischen Möglichkeiten, die ihnen geboten werden. Im Vergleich dazu hinkt der Staat mit seinen Bemühungen zur Regulierung dieser neuen Lebenswelt hinterher. Das „Recht auf Vergessen“ musste erst vor dem Europäischen Gerichtshof erkämpft werden. Es ist auch nur für den relevant, der erfahren musste, wie das eigene Leben von der Sichtbarkeit im Internet beherrscht werden kann.

In der Debatte über die Industrie 4.0 kann man diese Fehler vermeiden. Zwar kennt jeder die revolutionäre Bedeutung der Digitalisierung für die Industrie. Aber diese ist im Vergleich zu privaten Lebenswelten geradezu träge, weil sie an bestehende Strukturen anschließen muss, wenn sie gelingen soll.

In seinem Buch „Arbeit 4.0. – Was Beschäftigte und Unternehmen verändern müssen“ unternimmt Detlef Wetzel, Erster Vorsitzender der IG Metall, einen interessanten Versuch. Er will diese Veränderungen sichtbar machen. Das Buch beruht auf Interviews mit Wissenschaftlern, Praktikern wie Betriebsräten und Betroffenen. „Versuch“ ist allerdings nicht als Ausdruck des Scheiterns zu werten, ganz im Gegenteil. Es setzt eine Erkenntnis um, die die Soziologin Sabine Pfeiffer im Gespräch mit Wetzel so ausdrückt: Aus der Perspektive von Entscheidungsträgern in Politik und Wirtschaft fühlten sich „viele Entwicklungen revolutionär an.“ Aber wer sich „seit Mitte der 1990er Jahre aktiv im Netz bewegt“, wundere sich manchmal „über das Ausmaß an technischem Unverstand und naiver Euphorie“.

„Wir haben echt Kommunikationsprobleme“

Die Entscheidungsträger gehen mit der Industrie 4.0 also nicht anders um als der Teenager mit seinem neuen Smartphone. Diese werden zwar jetzt bei BMW flächendeckend für alle Mitarbeiter eingeführt, aber sie müssen in die bestehenden Organisations- und Arbeitsprozesse integriert werden. Das geht nicht ohne die Beteiligung der Mitarbeiter. Wie man sich das konkret vorzustellen hat, schildert der BMW-Betriebsrat Peter Cammerer anschaulich. Mitarbeiter wollen Flexibilität nutzen, um etwa berufliche und familiäre Erfordernisse unter den berühmten Hut bringen zu können. Aber „wie organisiere ich Flexibilität so, dass sie nicht mehr sondern weniger Stress mit sich bringt?“, so Cammerers Frage.

Er meint damit die „Entgrenzung der Arbeit“, wo Lebens- und Arbeitswelt nicht mehr so eindeutig unterschieden werden wie früher. Ob man einmal die Woche 24 Stunden lang nicht an BMW denken kann? Das ist für Cammerer die Voraussetzung, um sich „richtig zu erholen“. Nur geschieht das nicht von selbst. Die Arbeit ist nämlich entgegen früherer Prognosen nicht verschwunden, sondern hat im Selbstverständnis der Menschen sogar noch an Bedeutung gewonnen. Die Gefahr besteht, von ihr regelrecht „aufgefressen“ zu werden; dass sie das gesamte Leben dominiert.

Hier setzt „Arbeit 4.0“ an. Man nutzt die bestehenden Strukturen betrieblicher Mitbestimmung, um die Arbeitsorganisation an die veränderten Lebensverhältnisse anzupassen. Dazu gehören neue Arbeitszeitmodelle genauso wie Gesundheitsprävention. Die Mitarbeiter sind dabei allerdings nicht wie früher lediglich Objekte, die die Vereinbarungen zwischen Betriebsräten und Unternehmen umsetzen müssen. Sie sind es selbst, die diese Prozesse gestalten müssen, wenn sie funktionieren sollen.

Eine Kollegin bei Gothaer Systems in Köln hat in Wetzels Buch deutlich gemacht, was darunter zu verstehen ist. Sie arbeitet in einem Bereich mit sehr vielen Teilzeitkräften. Es sei eine Herausforderung für Besprechungen einen Tag zu finden, an dem alle da seien. „Wie haben echt Kommunikationsprobleme“, so ihr Fazit. Nichts beschreibt besser als dieser Satz, worum es bei „Arbeit 4.0“ gehen muss. Eine Form der Kommunikation zu finden, die nur noch mit dem Grundsatz der Teilhabe funktionieren kann. Mit der alten Logik von Befehl und Gehorsam wird man hier nicht weit kommen.

Neue Lösungen

Das bedeutet zugleich, den Beschäftigten die Möglichkeit zu geben, ihren Arbeitsalltag veränderten Lebensverhältnissen anzupassen. Ob das jetzt die Neuorganisation des Schichtsystems in einem Werk von ThyssenKrupp in Rasselstein betrifft oder die Folgen der Familiengründung. So merkte die Kollegin bei Gothaer Systems nach der Geburt der Kinder, wie „Grenzen enger werden“ und sich Schwerpunkte von der Arbeit zur Familie verschieben. Damit umzugehen, müssen Betriebe möglich machen. Für die Gewerkschaften ist das aber ebenfalls „Neuland“, weil solche Modelle noch vor einer Generation keine Rolle spielten. „Arbeit 4.0“ ist somit weit mehr als nur die Technikfolgenabschätzung früherer Jahrzehnte. Dahinter verbirgt sich ein gesellschaftspolitischer Wandel.

Das betrifft auch den Umgang mit prekärer Beschäftigung, der die Handlungsspielräume von Arbeitnehmern radikal einschränkt. Dort werden Beschäftigte dem ausgesetzt, was der Frankfurter Soziologe Sighard Neckel die „moderne Wettbewerbsgesellschaft“ nennt. Sie produziere ständig „neue berufliche Bewährungsproben“ und somit zugleich „Enttäuschungen“. Es gibt aber kein Korrektiv, um damit umzugehen. Der Gestaltungsspielraum des Einzelnen reduziert sich ohne funktionierende Strukturen auf ein Minimum. Er hat keine Möglichkeit, die Zumutungen dieser Wettbewerbsgesellschaft auf ein verträgliches Maß zu reduzieren. Es müssen somit Wege geöffnet werden, um Ausgrenzungen zu verhindern.

„Wir dürfen nicht nur an die Eliten denken“

Der Bildungsforscher Bernd Käpplinger brachte das prägnant auf den Punkt. Wo früher das katholische Arbeitermädchen vom Lande als Problemgruppe thematisiert worden sei, spreche man heute vom „muslimischen Migrantensohn in der Großstadt.“ Nun hat jedes Klischee seinen wahren Kern. Aber dahinter steckt die Frage, wie der Zugang zu qualitativ hochwertigen Arbeitsplätze sichergestellt werden kann. „Wir dürfen nicht nur an die Eliten denken“, so der Porsche-Betriebsrat Uwe Hück in Wetzels Buch. Bei Porsche gibt es ein Modell, um Jugendlichen ohne höhere Schulbildung den Einstieg in einen Facharbeiterberuf zu ermöglichen. Es geht darum, diese Jugendlichen „wertzuschätzen“. So nennt es der Ausbildungsleiter bei Porsche, Dieter Esser. Das bringt zum Ausdruck, worum es bei „Arbeit 4.0“ geht: Um Respekt vor dem Menschen, der eben mehr ist als ein Mittel zum Zweck.

Die Industrie 4.0 ist somit mehr als nur der Anschluss der deutschen Industrie an das Internet. Diese Reduzierung auf technologische Innovationen verkennt das Problem. Man machte damit den gleichen Fehler wie in der Debatte über die Globalisierung, als manche Unternehmer und Politiker die Abschaffung des deutschen Modells der Arbeitsbeziehungen (und schlichte Kostensenkung) für die Lösung des Problems hielten. Heute gelten gerade die als Grund, warum sich Deutschland an veränderte weltwirtschaftliche Rahmenbedingungen so erfolgreich anpassen konnte. Es sind wahrscheinlich die gleichen Leute, die „gerade das Internet entdeckt haben“, wie es die Soziologin Sabine Pfeiffer formuliert.

In Wetzels Buch wird aber die eigentliche Dimension erkennbar. Es geht um einen fundamentalen gesellschaftlichen und sozialen Wandel, der ohne die Beteiligung der Beschäftigten zum Scheitern verurteilt wäre. „Arbeit 4.0“ könnte man daher gut mit Wertschätzung übersetzen. Es drückt aus, worum es geht.


Zur Person:
Frank Lübberding ist freier Autor und Journalist. Er schreibt u.a. für die „Zeit“, die „taz“, und die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“.


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