Praxisbeispiel Entgeltgerechtigkeit bei VW Wolfsburg
Wenn die Frauen verschwinden

Bei VW in Wolfsburg haben die Betriebsrätinnen bereits erste Erfolge beim Thema Entgeltgleichheit. In der Kommission Frauenförderung setzen sie sich dafür ein, dass mit konkreten Maßnahmen der Frauenanteil in den höheren Entgeltstufen erhöht wird.

16. November 201216. 11. 2012


... der Frauenanteil in den höheren Entgeltstufen erhöht wird.

Während der Ausbildung ist die Welt noch in Ordnung. Ob junge Frauen oder junge Männer – beide werden bei Volkswagen in Wolfsburg gleichermaßen gefördert. Unterschiede gibt es nicht. Doch kaum haben sie die Prüfung hinter sich, erfolgt der erste Knick. „Das ist die erste Phase, in der wir Frauen verlieren“, sagt die Betriebsrätin Gabriele Trittel. Es wird nicht die letzte sein.


Während die jungen Männer eine Facharbeiterlaufbahn einschlagen, um später beispielsweise als Meister zu arbeiten, bleiben die meisten Kolleginnen in der Produktion und damit auf einer niedrigeren Entgeltgruppe hängen. Nicht etwa, weil sie das selbst so entschieden haben. Die Auswahl treffen Führungskräfte. Braucht der Fachbereich beispielsweise 15 ausgebildete Facharbeiter, werden verhältnismäßig mehr junge Männer angesprochen. „Dahinter steckt oft die Überlegung, dass ein Mann berufliche Perspektiven braucht und gefördert werden muss, damit er später die Familie ernähren kann, während sich Frauen um Kinder und Haushalt kümmern“, vermutet Trittel. So ist es Praxis und bislang hat sich auch keine der jungen Frauen beschwert. Stattdessen satteln sie weitere Qualifikationen auf ihre Ausbildung drauf und werden Betriebs- oder Fachwirtinnen.


Tansparenz hilft, Veränderungen anzustoßen

Dass Frauen bereits nach ihrer Ausbildung abgehängt werden, hat Gabriele Trittel anhand von Zahlen und Erwerbsverläufen festgestellt. Das ist seit 2007 möglich, seitdem in der Kommission Frauenförderung regelmäßig über den Frauenanteil im Konzern und in ausgewählten Beschäftigtengruppen berichtet wird. Die Kommission existiert seit 1992 und ist mit Betriebsratsmitgliedern, Personalvorstand und Personalleitern der Standorte besetzt. „Der Entgeltbericht ist ein eingeführtes Instrument, das wir nutzen“, indem er um den Frauenanteil erweitert wird. „Die Transparenz im Entgeltbericht hilft, Veränderungen auf den Weg zu bringen.“

Noch sind es einzelne Beschäftigtengruppen und deren Eingruppierungen, aus denen Gabriele Trittel erkennen kann, ob Frauen gleichermaßen wie Männer aufsteigen und gefördert oder abgehängt werden. Ziel ist, demnächst im gesamten Konzern den Frauenanteil für jede Entgeltstufe zu kennen. Während der Entgeltbericht Zahlen, Daten und Fakten liefert, setzt die Kommission Frauenförderung Ziele und Maßnahmen fest, um den Frauenanteil zu erhöhen. Etwa bei den Facharbeiterinnen. Es sollen genauso viele junge Frauen auf Facharbeiterstellen platziert werden, wie es ihrem Anteil bei den Auszubildenden entspricht. Und seitdem das Ziel vor zwei Jahren so formuliert und in der Kommission vereinbart wurde, funktioniert es auch.

Doch es gibt weitere Knicks in der Erwerbslaufbahn von Frauen. Da genügt ein Blick in den Entgeltbericht: In den beiden höchsten Entgeltstufen, die Facharbeiter erreichen können, sind Männer ganz unter sich. Trittel geht dem nach und kommt zu folgendem Schluss: Mit wachsender Berufserfahrung klettern die männlichen Kollegen Stufe für Stufe nach oben. Frauen allerdings nicht. Mehr noch: Mit zunehmender Qualifikation steigt auch das Entgelt, aber nur für die Männer. Den Facharbeiterinnen wird die Qualifizierung, um sich etwa auf Werkzeugoberflächenbehandlung zu spezialisieren, erst gar nicht angeboten. Und so passiert es, dass in den beiden höchsten Entgeltstufen keine einzige Frau eingruppiert ist. Mit Leistung hat das nichts zu tun, wohl aber mit Männerförderung. Und wieder beschwert sich keine Frau, dass die männlichen Kollegen an ihr vorbeiziehen.

Damit sich das nicht Generation für Generation fortsetzt, gibt es seit 2012 beispielsweise das Projekt „Fokus“ mit Seminaren für Frauen, die eine gewerbliche-technische Ausbildung abgeschlossen haben. Dabei geht es darum, sich aufs Berufsleben vorzubereiten, etwa selbst Vorstellungen für das berufliche Fortkommen zu entwickeln, zu planen, wie Beruf und Familie vereinbart werden könnte oder sich schlicht darauf einzustellen, als einzige Frau in einem Männer-Team zu arbeiten. Oder das Mentoren-Programm für Facharbeiterinnen. Ausprobiert im VW-Nutzfahrzeuge-Werk in Hannover und in Wolfsburg übernommen. Ziel des Programms ist, mehr Frauen zu Meisterinnen zu qualifizieren. Konkret: In den nächsten acht Jahren soll jeder zehnte Meister weiblich sein, eine Steigerung von derzeit 4,5 auf zehn Prozent, kurzum: 150 Meisterinnen für die Volkswagen AG. Gabriele Trittel ist optimistisch: „Ich bin zuversichtlich, dass uns das gelingt.“


Coaching und Mentoren, Netzwerke und Seminare – all das hilft jedoch offensichtlich nicht gegen den dritten Knick: Die Mehrheit der ausgebildeten Frauen aus den gewerblich-technischen Berufen kehrt aus der Elternzeit nicht zurück. Sie kündigen. „Wir verlieren von Phase zu Phase mehr Frauen und letztlich verschwinden sie fast völlig.“


Kein deutliches Signal des Arbeitgebers

Woran liegt das? Gabriele Trittel zählt ein ganzes Bündel von Gründen auf: der Drei-Schicht-Betrieb, der es fast unmöglich macht, sich mit dem Partner Familien- und Erwerbsarbeit zu teilen, die fehlenden Kinderbetreuungsmöglichkeiten im Umland von Wolfsburg, traditionelle Rollenvorstellungen, wonach der Mann arbeitet und die Frau bei den Kindern bleibt, nicht zu vergessen die Unternehmenskultur. „Das Unternehmen tut nicht viel dafür, dass die gut ausgebildeten Frauen nach der Elternzeit zurückkehren.“ Ihr fehlt ein deutliches Signal des Arbeitgebers, dass er auf die Kompetenz der Frauen nicht verzichten kann und will. Auch einen Betriebskindergarten gibt es nicht.


Stattdessen müssen die Mütter nach individuellen Lösungen suchen, um Arbeitszeiten und Öffnungszeiten von Kindertagesstätten miteinander vereinbaren zu können. Und wenn das nicht gelingt, steigen sie aus. Selbstverständlich hilft der Betriebsrat, individuelle Teilzeitmodelle durchzusetzen, aber dass Paare Eltern werden, wird zur alleinigen Angelegenheit von Frauen und führt oft genug zu einem Ausstieg aus der Erwerbstätigkeit. Um sie dennoch zu halten, haben Betriebsrat und die Abteilung Frauenförderung Elternzeittreffen initiiert. Damit der Kontakt zum Unternehmen nicht abreißt.


Dabei kann sich Volkswagen ein solches Verhalten betriebswirtschaftlich und auf lange Sicht nicht leisten, findet Trittel. Zum einen deshalb, weil das Unternehmen erst in die Ausbildung junger Leute investiert und später nichts dagegen unternimmt, wenn es die Frauen nach der Elternzeit verliert. Zum anderen wird es künftig weniger Schulabgängerinnen geben. Und je größer das Angebot an Ausbildungsplätzen ist, desto wahrscheinlicher wird es sein, dass sich junge Frauen eher für kaufmännische als für gewerblich-technische Berufe entscheiden. Ziel ist zurzeit, den Anteil von jungen Frauen im gewerblich-technischen Bereich von derzeit 24 auf 30 Prozent erhöht werden. Das soll mit Werbung für den Girls’ Day, Berufsinformationstagen für Eltern, Berufserlebnistagen für junge Frauen und kontinuierlicher Zusammenarbeit mit Schulen erreicht werden. Leicht wird das nicht. „Wir werden allein viel Energie aufwenden müssen, um den derzeitigen Anteil zu halten“, vermutet Trittel.


Im kaufmännischen Bereich sieht es kaum anders aus als im gewerblich-technischen. Zwar gibt es keine Entgeltstufe, in der nur Männer vertreten sind, aber auch dort ist zu beobachten, dass die Zahl der Frauen in den höheren Entgeltstufen abnimmt. Doch es geht auch anders: Auf der Führungsebene gibt es harte Ziele, um den Frauenanteil zu steigern. Vermutlich hatte Personalvorstand Horst Neumann auch das Management im Visier, als er im März 2012 erklärte, dass Frauenförderung und Familienfreundlichkeit für Volkswagen wichtige personalpolitische Ziele seien. Dass die tatsächlich erreicht werden, dafür sorgen die Zielvereinbarungen der Führungskräfte, und die sind bonusrelevant.


Fazit

Die Daten, Zahlen und Fakten sind zunächst eine wichtige Grundlage, um nachzuweisen, wie unterschiedlich sich das Einkommen von Männern und Frauen entwickelt, sagt Trittel. Und an welchen Stellen Frauen abgehängt werden oder ganz aus dem Unternehmen verschwinden.

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