7. Juni 2021
INTERVIEW IM TAGESSPIEGEL
„Die Zukunft im Blick haben“
Jörg Hofmann, Erster Vorsitzender der IG Metall, über die Trasformation der Autoindustrie, empfindliche Lieferketten, Chancen des Wasserstoffs und den Rückstand beim autonomen Fahren

Herr Hofmann, die negativen Nachrichten sind seltener geworden aus der Autoindustrie. Ist die Krise überstanden?

Die Auftragslage ist gut bis sehr gut. Dahinter ist die Branche in einem tiefgreifenden Umbruch in Richtung Elektromobilität. Dies beginnt in den Unternehmen mit der Umorientierung der Entwicklung und überhaupt des Produktportfolios. In einigen Jahren bemerken wir die Folgen in voller Wucht dann in der Produktion.


Dann ist das Szenario des Ifo-Instituts realistisch, wonach bis 2025 rund 175 000 der angestammten Arbeitsplätze in
der Autoindustrie wegfallen?

Ja, plausibel ist das schon. Uns interessiert, wie viele von diesen Arbeitsplätzen transformiert werden können in eine Zukunft weit über 2025 hinaus.


Und wie kann das gelingen?

Es stellt sich die Frage, wie viel Industriearbeit wir überhaupt noch in Zukunft in Deutschland haben. Und dies entscheidet sich daran, welchen Pfad die Leitbranche Automobil einschlägt. Transformation von Beschäftigung in neue Arbeit setzt voraus, dass neue Arbeit in Deutschland und nicht irgendwo anders auf dem Globus entsteht.


Woran denken Sie?

Konzernzentralen werden in Deutschland bleiben, doch die Softwareentwicklung findet oft nicht hier statt. Je mehr die Digitalisierung voranschreitet und auch das Auto prägt, desto mehr Kernkompetenzen könnten wir verlieren.


Es wird aber gerade diskutiert, ob es Chip- oder Halbleiterfabriken in Deutschland und Europa geben sollte.

Ja, das ist eine wichtige Frage. Die Erfahrungen mit der prekären Resilienz der Lieferketten in der Pandemie haben den Trend zum regionalen Sourcing verstärkt, und der eine oder andere Autohersteller denkt sogar darüber nach, Halbleiter selbst zu produzieren. Das Bedürfnis, die komplette Wertschöpfungskette in Europa zu haben, ist groß. Anders ist das bei Digitalisierungsthemen.


Welche sind das?

Wir haben zum Beispiel weder genügend IT-Fachkräfte, noch die passende Infrastruktur, noch bis dato Regulatorik für das autonome Fahren in Europa.


Marktführer Volkswagen baut sich immerhin eine eigene Softwaregesellschaft auf.

Und Volkswagen entwickelt ein eigenes Betriebssystem, um Wertschöpfung, die bislang von Systemlieferanten kommt,  ins Haus zu holen. Das ist auch deshalb ein richtiger Weg, weil die Komplexität der Integration von Systemkomponenten zu groß wurde. Was alle Hersteller brauchen, sind ausreichende Testfelder in Europa, um von den US-amerikanischen Unternehmen nicht abgehängt zu werden. Wir haben in Europa eine große Chance hier nach vorne zu kommen, wenn Unternehmen kooperieren, was die gemeinsame Nutzung von Daten angeht.


Vorrangig geht es aber doch in diesem Jahrzehnt um CO2-Reduzierung und batterieelektrisches Fahren.

Das ist schon richtig. Aber wenn die IT-Architektur im Auto in Richtung autonomes Fahren entwickelt wird, dann ist das schon heute ein großes Thema in den Entwicklungsabteilungen. Manche Geschäftsmodelle, die gegenwärtig im Zusammenhang mit neuen Mobilitätskonzepten diskutiert werden, hängen stark an der Frage, ob es noch einen Fahrer gibt oder nicht.


Europa schließt gerade die Wertschöpfungskette für das E-Auto mit vielen Batterieprojekten – gerade noch rechtzeitig?

Da passiert jetzt eine Menge und das ist gut so. Wir hatten das schon Anfang des vergangenen Jahrzehnts gefordert und sind lange nicht gehört worden. Trotzdem müssen wir sehen, ob die jetzigen Ankündigungen und Projekte tatsächlich ausreichen, um in der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts genügend Kapazitäten zu haben. Und die Beschäftigungswirkung von Batteriefabriken ist wichtig, weil wir jeden Arbeitsplatz hier brauchen – sie ist aber dennoch begrenzt.

 

Sie können an dieser Stelle Wirtschaftsminister Altmaier loben, der allein für den Aufbau von Batteriezellenprojekten drei Milliarden Euro zur Verfügung stellt.

Das war sicherlich sinnvoll, doch jetzt muss man aufpassen, dass nicht auch Unsinn gefördert wird. Wir dürfen nicht nur in alte Zellentechnologie subventionieren, sondern müssen die Zukunft im Blick haben.


Sie denken an VW und den VW-Partner Quantumscape mit der Festkörperzelle aus Salzgitter?

Das kann in der Zukunft eine Technologie sein, die einen großen Schritt nach vorne bringt. Ende des Jahrzehnts rechnen viele mit der Festkörperzelle. Dann haben wir aber riesige Kapazitäten für die Lithium-Ionen-Zelle aufgebaut, und auf den Produktionsanlagen dieser Zellen können sie keine Festkörperzellen produzieren. Das ist dann kein Problem, wenn die Wachstumskurve der E-Mobilität weiter exponentiell nach oben geht. Aber die Industrie soll auch die Brennstoffzelle weiterentwickeln.
Die Forschungsgelder in diesem Bereich sind überschaubar. Für den Güterverkehr kommen neben der Brennstoffzelle sowohl synthetische Kraftstoffe als auch batterieelektrische Antriebe in Frage. Bei der Brennstoffzelle gibt es Skalierungsmöglichkeiten, weil sie auch auf dem Wasser und auf der Schiene Sinn macht. Synthetische Kraftstoffe sind heute vom Pkw relativ weit entfernt, aber fast alternativlos im Luftverkehr. Beides verlangt eine funktionierende Wasserstoffinfrastruktur. Grundsätzlich ist Technologieoffenheit wegen der Forschungs- und Entwicklungskompetenz ganz wichtig für die Industrie.


Alle Welt redet von Wasserstoff, die IG Metall hätte gerne vom Steuerzahler bis 2030 zehn Milliarden für einen ersten
Schritt zur Dekarbonisierung der Stahlwerke.

Der Fördertopf der nationalen Wasserstoffinitiative ist ungefähr 20-mal überzeichnet. Wir müssen uns auch an dieser Stelle auf Anwendungsgebiete mit einem großen CO2-Hebel konzentrieren. Und das ist die Stahlindustrie. Nur die wird es aus eigener Kraft nicht schaffen. Daher braucht es diese öffentliche Investition in eine grüne Grundstoffindustrie.
Annalena Baerbock meint, weil grüner Wasserstoff eine knappes Gut sei, sollte man sich auf die Industrie beschränken. Aber auch die Luftfahrt werden wir ohne Wasserstoff nicht sauberer hinkriegen. Und der schwere Lkw wird auch zunehmend mit Brennstoffzelle und Wasserstoff fahren.


Für die IG-Metall-Mitglieder in den Autofabriken ist das Zukunftsmusik. Die Bundesregierung stellt allein zur Transformation dieser Industrie gut drei Milliarden Euro bereit. Was passiert mit dem Geld?

Die Mittel aus dem Konjunkturpaket, zwei Milliarden Euro, sind zum einen für Technologieförderung und Zukunftsinvestitionen, insbesondere bei KMUs vorgesehen. Dazu kommt noch eine Milliarde für die mittel- bis langfristige Gestaltung der Transformation. Hier sind 200 Millionen aus dem Zukunftsfonds Automobil für regionale Transformationsnetzwerke angedacht. Erfolg oder Misserfolg der Transformation entscheidet sich in den Regionen. Gerade in den heute stark vom Verbrenner geprägten Industriestrukturen. Wichtig ist: Besonders im KMU-Bereich muss hier unterstützt werden, das adressiert vor allem Zulieferer.


Und dann bekommen wir eine sozialverträgliche Transformation?

Ich hoffe das. Für uns alle ist das ein neues Feld, weil wir etwas nach vorne entwickeln wollen, und nicht hinterher Schadensbegrenzung machen, wie das nach dem Niedergang der Unterhaltungselektronik oder der Solarindustrie war. Wir brauchen jetzt zwei, drei regionale Projekte, wo nicht mehr nur Ideen beschrieben werden, sondern gehandelt wird. Der entscheidende Punkt wird sein, ob und wie die Unternehmen mitmachen.


Und?

Nehmen wir mal das Saarland. Da haben wir mit Bosch, ZF, Eberspächer und Festo vier große Firmen vor Ort, die alle am Verbrenner arbeiten und die sich zum Beispiel verständigen müssten auf die Bildung etwa eines saarländischen Brennstoffzellenclusters und entsprechend ihre Kapazitäten dort ausbauen, um gemeinsam ein Zukunftsfeld zu bestellen.


Sie wollten Zukunftstarifverträge durchsetzen in der diesjährigen Tarifrunde. Das ist nicht gelungen.

Wir haben die Tür geöffnet und einen Fuß drin. Wichtig ist eine Diskussion über Investitionen und Zukunftsbilder in den Unternehmen. Das Kernproblem ist die fehlende Strategie. Qualifizierungsangebote machen keinen Sinn, wenn kein Ziel erkennbar ist. Das betrifft zum Beispiel das weite Feld der KI. Da passiert viel zu wenig in den Unternehmen.


Erleben wird nicht gerade einen Digitalisierungsschub durch die Pandemie?

Ja, bei der digitalen Kommunikation, nein, bei digitalisierten Prozesstechnologien. Dort sind wir eher zurückgefallen. Ob das Industrie 4.0-Konzepte sind, der Einsatz von KI oder das Internet der Dinge – das ist alles sehr überschaubar. Über die Standarddigitalisierung hinaus passiert nicht sehr viel.


Wie nehmen Sie den Aufbau der Belegschaft im neuen Tesla-Werk wahr? Gibt es IG-Metall-Mitglieder in Grünheide?

Aber sicher. Wir bekommen mit, wer wechselt und wo versucht wird, Leute anzuwerben. Ursprünglich hatten wir gedacht, dass sich Tesla stark um polnische Arbeitskräfte bemühen würde, aber da passiert im Moment nichts. In Rüsselsheim gibt es Plakate von Tesla – aber ob die Abwerbung von Opel- Beschäftigten erfolgreich sein wird, werden wir sehen. Wenn Elon Musk im nächsten Jahr ans Netz gehen möchte, dann muss die Personalrekrutierung so langsam Fahrt aufnehmen.


Das Interview ist am 5. Juni 2021 im Tagesspiegel erschienen. Autor: Alfons Frese

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