11. März 2020
INTERVIEW IN DIE WELT
„In vielen Branchen wird kein Stein auf dem anderen bleiben“
Jörg Hofmann, Erster Vorsitzender der IG Metall, über Corona-bedingte Ausfälle, die Probleme der Branche und die aktuelle Tarifrunde

IG-Metall-Chef Jörg Hofmann hat schwere Tage vor sich. In der Metall- und Elektroindustrie läuft die Tarifrunde - und selten waren die Perspektiven für Deutschlands Schlüsselbranche mit ihren rund vier Millionen Beschäftigten unsicherer. Die kampferprobte Gewerkschaft hat den Arbeitgebern deshalb erstmals einen Stillhaltepakt angeboten: Verzicht auf konkrete Lohnforderung gegen Beschäftigungssicherung und mehr Mitbestimmung. Der Gewerkschaftschef über die Forderungen an den Tarifpartner, die Folgen der Corona-Epidemie und fehlende Planungssicherheit als Folge der Klimapolitik.


Die Börse reagiert extrem auf die Corona-Epidemie. Wie ist die Lage in den Unternehmen?

Jörg Hofmann: Es gibt Unternehmen, die betroffen sind. BMW etwa musste einige Mitarbeiter in Quarantäne schicken. Das ist aber bis jetzt die Ausnahme. Durch den Marktausfall in China haben Firmen, die stark dorthin exportieren, einen Umsatzausfall. Ob die Lieferketten reißen, kann man noch nicht sagen. Norditalien ist da ein größeres Problem als China. Aufgrund der chinesischen Neujahrsferien hatten ohnehin alle eingeplant, dass zwei Wochen lang keine Container kommen.


Die Ferien wurden aber ausgedehnt.

Ja, aber auch das lässt sich teilweise abfedern, weil die Unternehmen auf alternative schnellere Transportwege ausweichen. Unsere Information ist, dass in China die meisten Fabriken nun wieder laufen, wenn auch teilweise nicht mit allen Schichten. Im Lauf des Jahres wird sicher eine Aufholjagd beginnen. Die Chinesen werden versuchen, Wachstumsverluste wieder auszugleichen. Die Frage wird sein, ob unsere Exportunternehmen da partizipieren. Aufholjagd könnte auch heißen, dass die Chinesen ihre heimische Wirtschaft exzessiver fördern.


Das hört sich weit weniger pessimistisch an als das, was man von Börsianern und einigen Ökonomen hört.

Börse hat viel mit Psychologie zu tun. Was wir dort gerade erleben, findet noch keine Bestätigung in der Realwirtschaft. Die Lage, die wir jetzt aufgrund von Corona haben, ist für die Wirtschaft noch nicht dramatisch, kann aber dramatisch werden. Daher tun Unternehmen und Politik gut daran, sich auf eine Zuspitzung der Situation einzurichten.


Die Bundesregierung hat beschlossen, die Regeln zur Kurzarbeit deutlich zu lockern. Sinnvoll?

Grundsätzlich befürworten wir, den Zugang zu Kurzarbeit zu erleichtern. Dass man die Unternehmen nun bis 2021 von allen Sozialbeiträgen befreit, ist sehr weitgehend. Wenn Arbeitgeber ihre Lohnkosten vollständig entsprechend des Arbeitsausfalls absenken können, Beschäftigte aber nur einen Teilausgleich bekommen, entsteht eine soziale Schieflage. So richtig es ist, jetzt entschieden zu handeln, stellt sich die Frage von Zeitraum und sozialer Balance solcher Maßnahmen. Wir erwarten von den Unternehmen, dass sie bei Kurzarbeit die Nettoentgelte über Zuzahlungen absichern. Es wäre problematisch, wenn in der jetzigen Situation zusätzlich die Binnennachfrage einbricht.


In der Tarifrunde setzen Sie auf ein Moratorium: Die Arbeitgeber sollen auf Personalabbau verzichten, und die Gewerkschaft stellt keine konkrete Lohnforderung. Ein Novum: Ist die Lage so ernst?

Wir stecken mitten in einem strukturellen Umbruch. Da geht es um Hunderttausende Beschäftigte. Deshalb müssen wir die Transformation so gestalten, dass die Beschäftigten eine Perspektive haben. Viele Betriebe sind überhaupt nicht oder nur schlecht vorbereitet. Deswegen fordern wir betriebliche Zukunftstarifverträge, um Beschäftigung, Investitionen und Standorte zu sichern. Das wollen wir nicht in einer normalen Tarifrunde bearbeiten. Ich bin gespannt, ob wir bis anfang April Ergebnisse haben.


Geht es auch darum, den Betrieben mehr Luft zu lassen?

Klar ist, dass wir im Tarifvertrag weiter verbindliche Rahmenbedingungen setzen. Konkurrenz soll nicht über Lohn und Arbeitsbedingungen ausgetragen werden, sondern über Innovation und Qualität. Aber es ist Zeit für eine grundlegende Veränderung. Wir wollen nicht mehr erst dann ins Spiel kommen, wenn die Unternehmen in einer existenziellen Krise sind. Das heißt dann im Regelfall, dass die Belegschaft Opfer bringen muss, um die Karre aus dem Dreck zu ziehen und wir dann tarifvertraglich Zugeständnisse machen müssen. Daher ist es wichtig, dass wir viel früher in der Strategieentscheidung dabei sind.


Über strategische Investitionen mitentscheiden zu lassen, ist nicht das, was die Arbeitgeber sich wünschen.

Das ist sehr unterschiedlich im Arbeitgeberlager. Viele Unternehmer wissen, dass die Transformation nur zusammen mit  der Belegschaft gelingt. Die sind da relativ tiefenentspannt. Diejenigen, die selbst kein Bild haben, was auf sie zukommt, tun sich schwer. Aber die Veränderungswirkung von Digitalisierung und Dekarbonisierung auf die Branche ist enorm. Wir sehen ganz neue Geschäftsmodelle und Prozesse. In vielen Branchen wird kein Stein auf dem anderen bleiben. Man könnte eine Analogie ziehen zur Aufbauphase nach 1945. Das hat damals nur funktioniert, weil auch Betriebsräte und Gewerkschaften Verantwortung übernommen haben für diesen Prozess. Im Ergebnis stand eine  hochinnovative und beschäftigungsstarke deutsche Industrie, getragen von einer qualifizierten und engagierten Arbeitnehmerschaft. Ohne diesen Vergleich überzustrapazieren: Das Thema Mitbestimmung hat auch jetzt wieder eine riesige Bedeutung dafür, wie wir die Sicherung des Standorts Deutschland hinkriegen, ohne den Arbeitsmarkt weiter zu spalten.


Der letzte Tarifvertrag lief zwei Jahre. Wird es nun eine kürzere Laufzeit geben?

Ja. Ich bin normalerweise immer sehr vorsichtig bei der Frage, aber diesmal spricht alles für eine sehr kurze Laufzeit.


Viele Autohersteller und Zulieferer haben Sparprogramme angekündigt. Jetzt kommt noch die Corona-Krise. Droht nun der Absturz der Autoindustrie?

Die Autobranche muss aktuell gleichzeitig mehrere Probleme schultern. Mit Blick auf die Mobilitätswende und das autonome Fahren sind gewaltige Investitionen nötig, und die muss man erwirtschaften. Da tut die Wirtschaftsschwäche Chinas natürlich extrem weh, zumal die Abhängigkeit der deutschen Automobilindustrie von diesem Massenmarkt groß ist. Die Konzerne haben es versäumt, rechtzeitig umzusteuern, als erkennbar war, dass der Klimawandel andere Strategien erforderlich macht. Deshalb hecheln wir jetzt hinterher.


Die Rahmenbedingungen haben sich aber auch rasant geändert, getrieben von der Fridays-for-Future-Bewegung. In der Gesellschaft grassiert eine gewisse Industriefeindlichkeit, und die Politik ist schnell mit immer schärferen Regulierungen dabei.

In der Tat wirbeln die sich ständig ändernden Vorgaben die Industrie durcheinander. In der Autoindustrie galt erst das CO2-Reduktionsziel 30 Prozent bis 2030. Auf diese Marke waren die gesamten Investitionspläne ausgerichtet. Jetzt haben wir das neue Ziel 37,5 Prozent. Die Entwicklung eines Fahrzeugs braucht aber mindestens sechs bis sieben Jahre. Und jetzt, knapp ein Jahr nach dieser Festlegung, droht eine erneute Debatte aus Brüssel für eine weitere Verschärfung der Flottenwerte. So schnell können die Unternehmen ihre Investitionen gar nicht umsteuern.


Warum hört man vom Protest der Gewerkschaften gegen diesen Kurs nichts?

Die IG Metall hat erfolgreich Einfluss auf die Politik ausgeübt, um eine Balance zwischen Klimaschutz und der Autoindustrie und ihren Beschäftigten zu erreichen. Die Unternehmen hatten wegen des Abgasskandals bekanntlich jegliches Renommee verloren. Ohne das Engagement der Gewerkschaften wären die Ergebnisse noch viel schwieriger ausgefallen. Wir waren es, die beispielsweise beim Thema Hybrid Lösungen mit bewirken konnten, die  Beschäftigung sichern und deutschen Autohersteller die Anpassung erleichtern. Wir wollen, dass der Mobilitätssektor zum Erreichen der Pariser Klimaziele beiträgt. Aber wir fordern von der Politik auch Planungssicherheit. Technologieoffenheit ist notwendig, darf aber keine Entschuldigung fürs Nichtstun sein. Jetzt brauchen wir die Elektrifizierung der PKW-Antriebe, da keine andere Technologie skalierbar bereitsteht, die Klimaschutzziele 2030 zu erreichen. Langfristig braucht es aber auch Wasserstoff und synthetische Kraftstoffe, insbesondere für andere Verkehrsmittel wie Busse, Lastkraftwagen, Schiffe und Flugzeuge.


Müssten die Gewerkschaften nicht offensiver gegen die auto- und industriekritische Haltung ankämpfen?

Das Image der Autoindustrie wird nur dann wieder nachhaltig besser, wenn sie einen verlässlichen Beitrag zum Klimaschutz leistet und nicht in eine Abwehrhaltung verfällt. Wenn beispielsweise jetzt VW auf Elektromobilität setzt, dann ist das auch ein Beitrag dazu, auf die Stimmung in der Gesellschaft positiv einzuwirken.


Hat der Industriestandort Deutschland seine beste Zeit hinter sich?

Nein. Wer, außer der deutschen Industrie, könnte denn den Beweis antreten, dass Klimaschutz und Wohlstand für den Einzelnen und die Gesellschaft kein Widerspruch sind? Und wenn wir hier erfolgreich sind, hat dies eine enorme Ausstrahlungskraft auf den Rest der Welt. Damit das gelingen kann, braucht die Industrie allerdings endlich verlässliche Rahmenbedingungen und eine konsistente Politik.

Das Interview ist am 11. März 2020 in Die Welt erschienen. Autorinnen: Christine Haas/Dorothea Siems. 
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