Die Corona-Krise hinterlässt tiefe Spuren im Alltagsleben wie in der Wirtschaft. Man spürt derzeit eine allgemeine Bereitschaft, viele Dinge noch einmal grundsätzlich zu überdenken. Darin steckt eine Riesenchance für all die umwälzenden, notwendigen Prozesse, die wir unter "Transformation" zusammenfassen.
Auf drei Fragen müssen Antworten gefunden werden, um nach der Krise zu einer neuen Normalität zu kommen: Da ist zunächst die Frage, wie sich Globalisierung weiterentwickelt und welche Rolle Europa dabei in Zukunft spielt. Die Krise bestärkt den Drang, sich hinter nationalstaatliche Mauern zurückzuziehen. Man kann dazu nicht oft genug betonen: Hunderttausende Arbeitsplätze, Gehälter und Wohlstandschancen hängen hierzulande vom Export ab. Abschottung heißt für uns Abstieg. Aber: Nicht jede Lieferbeziehung über Zehntausende Kilometer, nicht jede Standortverlagerung über Billiglohngrenzen hinweg ist sinnvoll. Die Globalisierung braucht ein sozial-ökologisches Update. Wir brauchen geschlossene Wertschöpfungsketten in Europa. Wenn im Verteilungskampf um die Wiedergewinnung wirtschaftlicher Stärke das europäische Innovations- und Sozialmodell nicht gefährdet werden soll, muss Europa die Innovationsfelder selbst besetzen. Ein weiteres Argument, die Globalisierungsstrategien neu zu überdenken. Das setzt aber auch voraus, dass wir Europa weiter festigen, statt in eine neue Kleinstaaterei zurückzufallen. Der Hochlauf nach dem Shutdown muss zwingend europäisch koordiniert stattfinden. Das verlangen schon die engen Lieferketten der Industrie.
Daher ist es unverständlich, dass manche Fehler der europäischen Krisenbewältigung, die nach 2009 begangen wurden, sich zu wiederholen drohen. Solidarität sollte heute europaweit sein. Solidarität hilft allen! Manche hoffen, dass die Krise nun der neoliberalen Religion des Profits endgültig den Garaus macht. Ein weiteres Mal muss der Staat mit ungeheuren Summen die Wirtschaft stützen. Die öffentliche Hand muss enorme Aufgaben übernehmen, schon um den Strukturwandel zu stützen. Nun kommen die explodierenden Kosten der Krise hinzu. Gut, dass die schwarze Null gleich mit explodiert ist, sie war noch nie sinnvolles Ziel der Politik. Der absehbare Einbruch der Steuereinnahmen verweist auf die astronomisch hohen Privatvermögen in den Händen relativ weniger Menschen in unserem Land.
Dies wird die zweite Frage sein. Die Antworten finden sich schon bei den Maßnahmen der Krisenbewältigung und ihrer Umsetzung. Solidarität ist keine Einbahnstraße zum Erhalt des Eigentums. Wer Liquiditätshilfen erhält und diese nutzt, um Entlassungen zu finanzieren, handelt genauso schäbig wie jener, der trotz Inanspruchnahme von Staatshilfen Ausbildungsverträge kündigt und damit jungen Menschen die Zukunft verbaut. Ein Rettungsschirm für Unternehmen muss auch immer ein Rettungsschirm für Beschäftigte sein. Und es braucht eine soziale Balance der Maßnahmen. Auch wenn es gelingen könnte, einen deutlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit zu verhindern, wird für viele der Weg raus aus der Kurzarbeit Monate dauern. Das ist mit Opfern verbunden.
Umso wichtiger ist es, dass die soziale Balance gewahrt wird. Es geht um die Mitte der Gesellschaft, um die Millionen von Beschäftigten, die immer solidarisch ihren Beitrag zur Finanzierung des Sozialstaates leisteten und jetzt zu Recht Unterstützung erwarten. Die jetzt beschlossene Reform in der Kurzarbeit ist mehr als geboten und hätte noch klarer ausfallen können. Sie rettet Existenzen und ist ökonomisch klug. Denn die Einkommensverluste Hunderttausender Beschäftigter verstärken die Krise.
Der Staat wird noch weiter gefordert sein, das ist jetzt schon absehbar. Wir werden im Ausgang aus der Krise ein Konjunkturpaket schnüren. Es bietet die Chance, dem Projekt einer zukunftsfähigen Industrie mit zukunftsfähigen Arbeitsplätzen und vollständigen Wertschöpfungsketten in unserem Land einen wirklichen Push geben. Der Strukturwandel läuft ja weiter. Die Punkte für ein Konjunkturpaket liegen auf der Straße. Von der Energiewende über die industrielle Nutzung grünen Wasserstoffs, den Ausbau der Schieneninfrastruktur und des Stromnetzes, die Nutzung synthetischer Kraftstoffe im Flug-, Schiffs- und Schwerlastverkehr bis hin zum Megaprojekt der Umstellung unserer Pkw-Flotten auf klimafreundliche Antriebe und den Ausbau der Batteriezellenproduktion. Und wir sollten auch hier sagen: klotzen statt kleckern.
Wie können wir die Krise als Chance nutzen, die Transformation sozial, ökologisch und demokratisch zu gestalten? Dies ist die dritte Frage, auf die wir Antworten finden müssen. Kontraproduktiv sind Versuche, die Krise als Legitimation zum Abbau und Aussetzen demokratischer und sozialer Rechte zu nutzen. Ja, wir brauchen temporäre Abweichungen von den Regeln der Vorkrisenzeit. Aber die neue Normalität nach der Krise darf keine sein, bei der mit Notverordnungen Arbeitnehmerrechte außer Kraft gesetzt werden. Der Ethikrat drängt zu Recht auf eine Rückkehr zur demokratischen Praxis. Solidarische Krisenbewältigung und Transformation durch Digitalisierung und Dekarbonisierung sind keine parallelen Prozesse, sondern haben Schubkraft hin zur radikal veränderten Arbeitswelt und Gesellschaft. Dies beinhaltet Interessenkonflikte und deren demokratischen Auflösung. Handlungsfähigen Gewerkschaften und darauf aufbauender Tarif- und Sozialpartnerschaft wächst dabei eine zentrale Rolle zu, soll diese Arbeitswelt sozial, ökologisch und demokratisch gestaltet sein.
Der Gastbeitrag ist am 29. April 2020 in Die Welt erschienen. Autor: Jörg Hofmann
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