Den Vorwurf der Geschichtsvergessenheit können wir nicht auf uns sitzen lassen. Wer heute das Homeoffice befürworte, so hieß es vor drei Wochen in der F.A.S., der vergesse den historischen Kampf der Arbeitbewegung gegen die Ausbeutung in der Heimarbeit, er setze Errungenschaften der Moderne aufs Spiel wie die Trennung von Wohnen und Arbeiten oder die Idee von Freizeit und Privatheit. Sogar der Gewerkschaftsvorsitzende Carl Legien wurde ins Feld geführt, der sich gegen die Vermischung von Arbeiten und Wohnen gewandt habe, weil sie das Familienleben zerstöre.
Aus unserer Sicht verhält es sich genau umgekehrt. Wenn Gewerkschaften wie die IG Metall heute für ein neues Gleichgewicht eintreten, dann stehen wir genau in dieser Tradition der Humanisierung der Arbeit.
Die Einführung von gemeinsamen Betriebsstätten im Zuge der Industrialisierung hat zwar die Trennung von Arbeit und privater Sphäre ermöglicht. Aber fortan waren die Lebensumstände und das Zeitregime der Menschen dem Rhythmus der Maschinen unterworfen. Diese Taktung hat nicht nur Auswirkungen auf die Menschen, die an den Maschinen arbeiten, sondern auch für Büros, Schulen, Kindergärten, Einzelhandel, Kultur, Verkehr. Zivilisatorischer Fortschritt durch Technik ergab sich erst durch die erfolgreichen gewerkschaftlichen Kämpfe für eine Humanisierung der Arbeit.
Gewerkschaften haben historisch immer dafür gesorgt, dass sich Produktivitätssteigerungen neben steigenden Löhnen auch in Arbeitszeitverkürzungen, Arbeitsschutz und Pausenregelungen niederschlugen. Insofern geht es beim Recht auf Homeoffice wieder darum, dass die Produktivitätsgewinne der digitalen Transformation und die neuen technischen Möglichkeiten für mehr Selbstbestimmung der Beschäftigten genutzt werden können.
Deshalb befürworten wir ein Recht auf Homeoffice und ein entsprechendes Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats beim Ort der Arbeit. Gleichzeitig setzen wir uns für diejenigen Kolleginnen und Kollegen ein, bei deren Tätigkeiten kein Homeoffice möglich ist. Aufgabe der Betriebsparteien ist es, für diese Beschäftigten einen Ausgleich durch freie Zeit oder finanzielle Leistungen zu schaffen. Bei ihnen steht aktuell der Gesundheitsschutz absolut im Vordergrund. Gute Arbeit für alle - das bleibt für uns der gewerkschaftliche Auftrag. Gewerkschaften sind Pioniere beim Thema mobiles Arbeiten. Viele Beschäftigte möchten mehr Selbstbestimmung darüber, wie und wo sie arbeiten. Ihnen geht es vor allem darum, durch den Wegfall des Arbeitsweges wertvolle Zeit zu gewinnen. Mehr Zeit für die Familie, für den Haushalt, für Freunde und Ehrenamt oder auch für den individuellen Biorhythmus.
Schon Anfang der 2010er Jahre haben deshalb Betriebsräte bei Bosch, BMW, Daimler und Volkswagen zukunftsweisende Betriebsvereinbarungen für die freiwillige (nicht die angeordnete) Arbeit außerhalb der Betriebsstätten ausgehandelt. Homeoffice ist dabei nur eine Form, mobil zu arbeiten. 2018 hat die IG Metall einen Tarifvertrag für die Metall- und Elektroindustrie abgeschlossen, der Mindestanforderungen für betriebliche Regelungen definiert wie das Prinzip der Freiwilligkeit und die Erfassung der Arbeitszeiten.
Im Frühjahr fanden sich binnen Tagen Millionen Menschen im Homeoffice wieder. Und siehe da: Mobile Arbeit ist in großem Umfang technisch möglich und effektiv. Vor der Pandemie konnten Anträge von Beschäftigten, zu Hause zu arbeiten, wenn überhaupt, nur gegen erheblichen Widerstand von Vorgesetzten durchgesetzt werden. Der Arbeitgeberverband Gesamtmetall kritisiert gegenwärtig, dass durch einen Anspruch auf Homeoffice die uneingeschränkte Verfügungsbefugnis der Arbeitgeber bedroht sei.
Für Homeoffice spricht auch die beträchtliche Abnahme des Pendelverkehrs, zweifellos ein Beitrag zum Erreichen der Klimaziele. Der Dauerbetrieb im Homeoffice legte zahlreiche Probleme offen, für deren Lösung sich Betriebsräte und Gewerkschaften engagieren - etwa entgrenzte Arbeitszeiten, ungeeignete Laptops, fehlende Bildschirme oder Bürostühle. Eine repräsentative Umfrage der IG Metall hat ergeben: Etwa die Hälfte arbeitet im Homeoffice in einem normalen Wohnraum, am Küchentisch oder auf dem Sofa. Hinzu kommt die Bedeutung sozialer Infrastruktur: Kitas, Schulen, Pflegeeinrichtungen. Als sie entfiel, blieb die Last vor allem an den Frauen hängen: Schuld an Missständen und Risiken, die dem Homeoffice zugeschrieben werden, ist nicht das Homeoffice an sich, sondern es sind ungleicher Zugang, Lücken in der Mitbestimmung, teurer Wohnraum und mangelnde Daseinsfürsorge.
Wer im Homeoffice und auswärts arbeiten will, soll das auch dürfen. Die IG Metall fordert deshalb einen Anspruch auf mobile Arbeit - sofern die Tätigkeit dafür geeignet ist. Nur wenn das nicht der Fall ist, soll der Arbeitgeber den Wunsch ablehnen können, und die Ablehnung muss er begründen.
Mobile Arbeit muss aber freiwillig sein. Egal ob Beschäftigte das Recht darauf nutzen oder nicht: Ihnen dürfen daraus keine Nachteile entstehen. Der Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung muss für mobile Arbeit sichergestellt sein.
Arbeitgeber müssen die geleistete Arbeitszeit erfassen und dokumentieren. Derzeit arbeiten viele Beschäftigte zu Hause länger, als es ihr Arbeitsvertrag vorsieht. Das Arbeitszeitgesetz gilt aber auch im Homeoffice. Arbeitgeber dürfen Ruhezeiten nur im Rahmen des Gesetzes verkürzen, auf Mehrarbeit muss ein Zeitausgleich folgen.
Außerdem darf mobile Arbeitszeit nicht zu ständiger Erreichbarkeit führen. Außerhalb der vereinbarten Arbeitszeiten haben Beschäftigte das Recht auf Abschalten. Schließlich müssen die Arbeitgeber die notwendigen Arbeitsmittel fürs Homeoffice bezahlen - externer Bildschirm, Tastatur, Headset. An den Kosten für Bürostuhl oder Schreibtisch sollten sie sich zumindest beteiligen müssen.
Schließlich brauchen Betriebs- und Personalräte ein erzwingbares Mitbestimmungsrecht, wenn es um den Arbeitsort geht. Und Gewerkschaften müssen auch Beschäftige im Homeoffice erreichen können. Dazu benötigen sie digitale Rechte, um zum Beispiel das Intranet oder betriebliche Mailadressen für Kontaktaufnahme und Information zu nutzen. Wenn all dies sichergestellt ist, dann ist die Rückkehr von Verhältnissen wie in der Heimarbeit des 19. Jahrhunderts ausgeschlossen.
Das pandemiebedingte Dauer-Homeoffice hat allerdings auch gezeigt, wie wichtig es ist, einen Ort des sozialen Zusammentreffens zu haben. Die überwältigende Mehrheit der Beschäftigten wünscht sich deshalb eine Mischung aus mobiler Arbeit und Arbeit im Büro. Digitale Zusammenarbeit funktionierte in der Krise vor allem dann gut, wenn die Teams eingespielt waren. Wie wichtig Kommunikation und Interaktion der Beschäftigten sind, belegen auch die Erfahrungen mit agiler Arbeit. Dort gelten schon Türen als Hindernisse für eine effektive Kommunikation, die Bedeutung von Face-to-Face-Kommunikation für Innovationen ist ebenfalls belegt.
Zukunftsweisend ist also weder ein generelles Zurück in die Büros noch das Abschieben von Beschäftigten ins Homeoffice. Wir brauchen ein neues Gleichgewicht zwischen Büro, Werkstatt, mobiler Arbeit und Homeoffice. Christiane Benner ist Zweite Vorsitzende der IG Metall. Vanessa Barth ist Bereichsleiterin beim Vorstand der IG Metall.
Der Gastbeitrag von Christiane Benner und Vanessa Barth ist am Sonntag, 15. November 2020, in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erschienen.
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