Die industrielle Arbeit befindet sich in einem tiefgreifenden Wandel. Zum einen endet die längste Wachstumsphase der Nachkriegszeit. Sie war mit einem kontinuierlichen Beschäftigungsaufbau und Verteilungsspielräumen verbunden, die die Gewerkschaften, allen voran die IG Metall, für ansehnliche Tarifabschlüsse nutzen konnten.
Doch bedeutender dürften die strukturellen Umbrüche in der industriellen Wertschöpfung sein. Die digitale Vernetzung entlang der gesamten Wertschöpfungskette verändert Produktionsverfahren und Arbeitsbedingungen grundlegend. Hinzu kommen die Umbrüche, die durch die notwendige Dekarbonisierung von Produkten und Produktion erzwungen werden. Der Verzicht auf fossile Energieträger wie Kohle und Öl sowie die Umstellung vom Verbrennerantrieb auf batterieelektrisch angetriebene Autos sind aktuelle Stichworte.
Das ist bekannt und Gegenstand vieler Debatten. Weniger Aufmerksamkeit findet jedoch der Umstand, dass immer mehr Unternehmen die Gunst der Stunde nutzen, um langgehegte Rationalisierungspläne umzusetzen, Arbeitsplätze abzubauen und Standorte zu verlagern. Nicht aus Gründen der Digitalisierung oder des Umweltschutzes, sondern um die Ausnahmerenditen der Konjunkturperiode aufrechtzuerhalten.
Doch was hat das alles mit dem 3. Dezember, dem Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung zu tun? Ganz einfach: In diesem Klima betrieblicher Restrukturierung und Rationalisierung drohen vor allem Menschen mit Behinderung unter die Räder zu geraten. Zu teuer, zu wenig effizient und kaum in der Lage, sich auf die neuen Arbeitsbedingungen einzustellen, so lautet seit jeher der Pauschalverdacht. Nicht selten droht der Einsatz neuer Technologien anstelle notwendiger Maßnahmen der Arbeitsgestaltung.
Doch dieser Blick auf die Dinge ist weder sachlich geboten noch moralisch zu rechtfertigen. Heute leben in der Bundesrepublik 7,8 Million Menschen mit anerkannter Schwerbehinderung. Tendenz steigend. Nicht nur, dass viele der Behinderungen und Leistungseinschränkungen Folge gesundheitsverschleißender Arbeitsbedingungen sind. Sind die Arbeitsbedingungen entsprechend gestaltet, ist offensichtlich: Menschen mit Behinderung gehören in vielen Unternehmen durchaus zu den Leistungsträgern und tragen zum Unternehmenserfolg bei. Und diese Beiträge werden im Zeitalter auftretender Fachkräfteengpässe immer wertvoller.
Es wäre also mehr als kurzsichtig, die barrierefreie Gestaltung der Arbeit als Teil eines präventiven Arbeitsschutzes nicht als Zukunftsaufgabe der Unternehmen zu erkennen. Gerade die anstehenden Veränderungen sollten Anlass sein zu fragen, wie Arbeit menschengerechter und vor allem inklusiver werden kann. Digitale Technologien können helfen, schweres Heben und Tragen oder Zwangshaltungen zurückzudrängen und Menschen bei der Bewältigung ihrer Aufgaben zu unterstützen. Entscheidend ist, dass die Unternehmen die Potenziale von Menschen mit Behinderung als Zukunftsressource erkennen – und entsprechend handeln.
Auch die Politik ist gefordert. Seit geraumer Zeit bewegt jedoch die geplante Überarbeitung der sogenannten Versorgungsmedizin-Verordnung die Gemüter. In dieser Verordnung werden die Grundsätze benannt, nach denen die Versorgungsämter Anträge auf Anerkennung einer Schwerbehinderung begutachten. Der aktuelle Entwurf sieht Regelungen vor, die für viele zu einer Verringerung des anerkannten Grades der Behinderung (GdB) führen würden. Erhebliche Nachteile bei den Arbeitsbedingungen und der Verlust von Schutzrechten könnten schnell die Folge sein. Das wäre fatal und das Gegenteil einer Politik der Ermutigung der Betroffenen. Der Internationale Tag der Menschen mit Behinderung sollte daher als Aufforderung an Unternehmen und Politik verstanden werden, ihre Verantwortung für eine inklusive Transformation der Arbeitswelt dauerhaft wahrzunehmen. Und das, wie gesagt, über diesen Tag hinaus.
Der Gastbeitrag von Dr. Hans-Jürgen Urban ist am Montag, 2. Dezember 2019, in der Frankfurter Rundschau erschienen.
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