Frankfurt am Main – Der Zukunftstarifvertrag beim Schienenfahrzeugbauer ALSTOM steht kurz vor dem Aus. In einer Abstimmung haben sich 88,1 Prozent der IG Metall-Mitglieder in den betroffenen Werken für eine Kündigung des Tarifvertrags ausgesprochen. Der Zukunftstarifvertrag sollte eine Alternative sein zu den ursprünglichen Plänen des Managements, Fertigung ins Ausland zu verlagern und Stellen abzubauen. Der Vertrag wurde erst im April 2023 nach langwierigen Verhandlungen für eine Laufzeit von drei Jahren geschlossen.
IG Metall und Gesamtbetriebsrat werfen dem Management vor, die Umsetzung bewusst zu verschleppen. Alle Einigungsversuche verliefen bisher unbefriedigend. Sollte das Management nicht in letzter Minute einlenken und die Umsetzung aller vereinbarten Maßnahmen jetzt konsequent angehen, erfolgt als nächster Schritt die Kündigung des Tarifvertrags. Dann wollen IG Metall und Betriebsrat erneut in die Auseinandersetzung um die Zukunft der Standorte gehen.
Jürgen Kerner, Zweiter Vorsitzender der IG Metall und unter anderem zuständig für die Bahnindustrie: „Die Hinhaltetaktik des Managements ist unverantwortlich. So geht man als Arbeitgeber nicht mit seinen Beschäftigten um. Die Kolleginnen und Kollegen werden sich dieses respektlose Verhalten nicht gefallen lassen – zu Recht. Wer das Geld der Beschäftigten nimmt, aber nicht an der Zukunft der Standorte arbeitet, muss mit unserem erbitterten Widerstand rechnen. Ich appelliere an das Management, zur Vernunft zurückzukehren. Verträge sind einzuhalten. Alles andere ist unprofessionell.“
Jochen Homburg, Verhandlungsführer IG Metall: „ALSTOM muss auch an die Beschäftigten und ihre Fähigkeiten in den Standorten glauben. Das Risiko für die Zukunft kann nicht nur von ihnen getragen werden.“
René Straube, Gesamtbetriebsratsvorsitzender ALSTOM: „Ich bin schreckensfasziniert! ALSTOM hat es in beispielloser kurzer Zeit geschafft, das Vertrauen in den Belegschaften zu verlieren. Wenn das Management nicht jetzt die Weiche richtig stellt, war es das. Dann müssen wir in eine harte Auseinandersetzung gehen.“
Die Arbeitnehmervertretung hatte das ALSTOM-Management immer wieder zur Umsetzung angehalten – ergebnislos. Schließlich riefen IG Metall und Gesamtbetriebsrat Ende 2023 die Einigungsstelle an, auch hier blockt ALSTOM. Ein letzter Einigungsversuch am 12. April steht noch aus. Sollte sich dort das Unternehmen nicht bewegen und es kein relevantes Entgegenkommen geben, wird die IG Metall den Zukunftstarifvertrag kündigen und in die Auseinandersetzung um die Standorte gehen.
Der Zukunftstarifvertrag betrifft die Betriebe Hennigsdorf mit Hennigsdorf Drives, Görlitz, Bautzen, Siegen und Kassel. Um die Standorte und Arbeitsplätze zu sichern, hatten sich die Beschäftigten darauf eingelassen, finanzielle Beiträge – im Wesentlichen ihr Urlaubsgeld – zunächst als Versicherung einzubringen. Dabei ist geregelt, dass Beiträge zurückgezahlt werden, wenn die Produktivität entsprechend steigt und dadurch besser gewirtschaftet werden kann. Das muss aber vertragsgemäß das Unternehmen mit umsetzen: durch nachhaltiges Verfolgen von besseren Fertigungsabläufen, Investitionen, Einlastung von Aufträgen in den deutschen Werken und letztlich eine faire Messung der Produktivitätssteigerung. Darüber hinaus wollte ALSTOM die Tarifbindung der nicht tarifgebundenen Standorte im Konzern bereits bis November des letzten Jahres abgeschlossen haben. ALSTOM blieb bisher nicht nur die konsequente Umsetzung der Maßnahmen schuldig, sondern stieß im Februar ein weiteres Streichprogramm von bis zu 290 Stellen in Deutschland an. Inzwischen sind zwei Standorte, Görlitz und Hennigsdorf, abermals akut bedroht.
Für die Beschäftigten steht jetzt die zweite Abgabe ihres Urlaubsgeldes an – ohne wirkliche Gegenleistung des Unternehmens. Damit zwang das ALSTOM-Management die IG Metall und den Gesamtbetriebsrat zu handeln und in die Abstimmung über die Weiterführung des Zukunftstarifvertrags.
Zum Hintergrund:
Das Deutschland-Management hatte im Dezember 2021, zehn Monate nach der Übernahme von BOMBARDIER Transportation durch ALSTOM, ein groß angelegtes Programm zur Kürzung von bis zu 1.300 Stellen angekündigt, da in den betroffenen Standorten eine strukturelle und langfristige Unterauslastung bestünde. IG Metall und Gesamtbetriebsrat konnten daraufhin mit Hilfe externer Expertise belegen, dass sich die avisierte Einsparsumme auch durch Produktivitätssteigerungen realisieren lässt. Unter dem Motto „besser statt billiger“ legten sie ein Konzept vor, das die Standorte für die Zukunft wettbewerbsfähig macht, anstelle sie fantasielos kaputtzusparen. Darüber hinaus zeigte sich die Arbeitnehmerseite zu Zugeständnissen bereit: Für den Fall, dass die Produktivitätsziele nicht erreicht würden, sollte die entstehende Lücke mit objektiv zu messenden und gemeinsam zu kontrollierenden Beiträgen der Beschäftigten ausgeglichen werden. Mit diesem Konzept wurde der Zukunftstarifvertrag Anfang April 2023 über eine Laufzeit von drei Jahren geschlossen. Damit bestand zunächst Einigkeit zwischen dem Unternehmen und der Arbeitsnehmervertretung, Investitionen in die deutschen Standorte zu tätigen, um nach den Jahren der Vernachlässigung vor der Übernahme sie wieder wettbewerbsfähig zu machen.
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