Heinz Bude: Auch wenn es romantisch klingt: Im Zweifel ist der Mensch ein solidarisches Wesen. Wer glaubt, alles selber richten zu können und niemanden zu brauchen, sitzt dem Märchen des Neoliberalismus auf. Wer nur einmal ernsthaft krank war oder nicht wusste, wo man das eigene Kind nachmittags unterbringen kann, wenn es früher aus der Kita kommt, der weiß: Es gibt im Leben dauernd Situationen, in denen man auf andere angewiesen ist, ohne dass die nach einer direkten Gegenleistung fragen. Das ist eine fundamentale menschliche Erfahrung.
Das liegt daran, dass heute nicht mehr alle abhängig Beschäftigten in Deutschland eine gemeinsame Erfahrung von Ausbeutung und Unterdrückung haben. Unter den Beschäftigten gibt es Gruppen, denen es ziemlich gut geht. Sie haben das Gefühl, dass ihre Position das Ergebnis ihres eigenen Einsatzes ist. Ihr Empfinden ist: Wir kriegen mehr vom Kuchen ab als andere, aber wir tun auch was dafür.
Weil wir alle verletzliche Wesen sind. Das Leben konfrontiert einen mit unvorhergesehenen Lebensereignissen, die einen aus der Bahn werfen können. Das betrifft die körperliche Gesundheit, die sozialen Beziehungen, die seelische Verfassung. Dagegen ist niemand gefeit. Die Gründe liegen oft in der Arbeitswelt. Die Einzelnen müssen immer mehr leisten. Das macht sie stark und verletzlich zugleich. Es ist dieser Zwiespalt, an dem sich die Solidarität heute beweist. Niemand ist nur stark und niemand nur schwach. Deshalb können wir uns gemeinsam Schutz bieten.
Ja. Das Empfinden, dass man der Solidarität bedarf, ist heute größer als vor 20 Jahren. Der China-Schock ist allen in die Glieder gefahren.
Ich bin solidarisch, wenn ich nicht frage, was jemandem zusteht, sondern frage, was jemand braucht. Das hat nichts mit herablassendem Mitleid zu tun. Zur Solidarität gehört immer die Gegenseitigkeit. Wir stehen zusammen. Zur Solidarität gehört aber auch die Großzügigkeit. Ich frage nicht, was ich wann zurückbekomme, weil ich davon überzeugt bin, dass irgendwann, wenn ich das brauche, mir jemand auf die Beine hilft. Ich bin allerdings auch solidarisch mit Menschen, die ich nicht kenne – und vielleicht nicht einmal mag. Das ist das Gefühl des Gemeinwohls, ohne das Solidarität nicht gedeihen kann.
Absolut. Der Reichtum einer Gesellschaft misst sich nicht nur am ökonomischen Reichtum. Wenn wir von gescheiterten Staaten reden, dann meinen wir Gemeinschaften, denen es an Solidarität fehlt.
Gewerkschaften verkörpern eine elementare Botschaft. Sie lautet: »Du bist nicht allein!« In einer Welt, in der man mehr denn je für sich selbst sorgen muss und für sich selbst verantwortlich ist, bringen Gewerkschaften durch ihre bloße Existenz zum Ausdruck, dass das nicht alles ist: Wir stehen füreinander ein und lassen niemanden im Regen stehen.
Es ist ein armes Leben. Und es ist ein falsches Leben. Es ist ein Leben, das sich selbst verpasst.
Heinz Bude ist Professor für Makrosoziologie an der Universität Kassel. Mit seinem jüngsten Buch liefert er Antworten auf die soziale Frage unserer Zeit. Es ist unter dem Titel „Solidarität. Die Zukunft einer großen Idee“ im Carl Hanser Verlag erschienen und kostet 19 Euro.