Über 100 000 Ladeboxen für E-Autos sind im Werk in Wiesloch bereits vom Band gelaufen, schätzen Ralph Arns und Gerald Dörr. „Das Geschäft läuft so gut, dass wir gerade eine zweite Produktionslinie in Betrieb genommen haben“, freut sich Arns. Und Dörr ergänzt: „Wir verkaufen ins In- und Ausland. Zwei Drittel unserer Ladeeinheiten gingen an Autohersteller, wie VW oder Porsche. Aber seit einiger Zeit verkaufen wir unser eigenes Produkt auch unter unserem eigenen Namen.“ Wenn Arns und Dörr das draußen erzählen, blicken sie häufig in ungläubige Gesichter. Denn die beiden gehören nicht zum Team eines smarten Start-ups. Arns ist Betriebsratsvorsitzender und Dörr sein Stellvertreter — im 170 Jahre alten Unternehmen Heidelberger Druckmaschinen. Der Name steht für ein Traditionsunternehmen, das weltweit für seine Druckmaschinen bekannt ist. Und jetzt auch für Ladestationen für E-Autos. Warum?
Der Druckmaschinenbau steckt seit Jahrzehnten in der Krise. „Trotz steigender Druckvolumina sinkt der Verkauf von Druckmaschinen“, erklärt Arns. Denn es gibt immer mehr große Druckereien, die unter Volllast fahren, und viele kleine Lokaldruckereien verdrängen, so Arns. Das führe dazu, dass die Hersteller weniger Maschinen verkauften.
Ihre Innovationskraft und ihr Know-how nutzen die Metallerinnen und Metaller bei Heidelberger deshalb, um neue Geschäftsbereiche zu erschließen. Was die IG Metall seit Jahren fordert, haben sie in Wiesloch beherzigt. Seinen Anfang nahm die neue Erfolgsgeschichte in Halle 9. „Es ist die Elektronikhalle, denn hier werden Platinen bestückt und Schaltschränke für die Druckmaschinen gebaut“, erklärt Dörr. Als die Auftragslage wieder sehr dünn war, begannen die Metallerinnen und Metaller zu überlegen, wie sie die freie Kapazität nutzen könnten. Neue Produkte und Geschäftsfelder mussten her, um die Auftragsbücher zu füllen und so Arbeitsplätze zu erhalten.
Auf E-Ladestationen für heimische Garagen und öffentliche Plätze kamen sie in Wiesloch aus zwei Gründen: „Zum einen gibt es eine steigende Nachfrage nach Ladestationen“, sagt Arns. Und zum anderen würden sie sich mit Elektronik auskennen. Arns verdeutlicht: „Auch Druckmaschinen haben Elektromotoren und müssen, je nachdem wo auf der Welt sie installiert werden, mit verschiedenen Stromspannungen und Netzen zurechtkommen. Unser Know-how konnten wir auf die Ladeboxen übertragen. Sie funktionieren mit 110, 220 oder 400 Volt.“ Viele Wettbewerber hätten hier Probleme, verdeutlicht Dörr.
Besondere Maßnahmen zur Qualifizierung für die neue Produktion waren nicht nötig: „Die Umstellung zu den Schaltschränken ist nicht groß. Wie im Schaltschrank sind es Platinen, die wir bestücken müssen. Es sind normale Verdrahtungsarbeiten“, erklärt Dörr. Der größte Unterschied: Die Ladeboxen bestehen aus deutlich weniger Teilen als ein Schaltschrank. Das bedeutet, dass sich die Arbeitsschritte schneller wiederholen und die Heidelberger die Boxen in Bandmontage fertigen. Am Anfang waren deshalb einige Beschäftigte skeptisch, berichten die Betriebsräte. Beschwert hätte sich aber keiner und das anfängliche Gegrummel sei mit dem Produktionsstart schnell verstummt. Denn die Ladeboxenproduktion sichert nicht nur Arbeitsplätze. Viele der Beschäftigten sind auch stolz, dass sie die Mobilitätswende voranbringen und ihr Produkt gefragt ist.
Das ist aber nur der Anfang: Die Produktion der Ladesäulen allein kann die in den vergangenen Jahren sinkenden Verkaufszahlen von Druckmaschinen nicht ausgleichen. Dafür sind die Umsätze bislang zu gering. „Vorerst ist nur ein kleiner Teil der 5000 Beschäftigten mit der Produktion ausgelastet“, weiß Arns. Doch in Wiesloch bleiben sie umtriebig. Die Metallerinnen und Metaller suchen nach Möglichkeiten, das neue Geschäftsfeld auszubauen — um Umsatz und Arbeitsplätze zu sichern. Damit ihre Ladestationen für öffentliche und Supermarktparkplätze attraktiver werden, arbeiten sie an Schnellladefunktionen.
Eine weitere Idee: Die Ladestationen könnten intelligent werden und immer dann laden, wenn es die günstigsten Strompreise gibt.
Bei allem Pioniergeist achten die beiden Betriebsräte darauf, dass das klassische Geschäft nicht vernachlässigt wird. Denn die Druckmaschinen von Heidelberger und die zugehörigen Serviceleistungen sind weiterhin gefragt. Und vor allem hier bieten sich jetzt Möglichkeiten, neue Geschäftsfelder zu erschließen.
In Wiesloch entwickeln sie immer weiter neue Produkte: von Softwarelösungen, die den Workflow optimieren, über Onlinetrainings für Druckereibeschäftigte bis hin zu Cloudanwendungen, die Unregelmäßigkeiten in den Maschinen erkennen, bevor es zur Störung kommt. Wer sich also beim Thema Transformation was abgucken will, der sollte den Beschäftigten in Wiesloch über die Schulter blicken.