Ein Autofahrer setzt trotzdem stur seinen Blinker, muss aber weiterfahren, nachdem Menschen mit Absperrband in der Hand ihm zu verstehen geben, dass hier kein Durchkommen ist. Die Beschäftigten in Warnwesten sind in ihrer Mittagspause vor das Haus der Siegerländer Metallindustriellen gezogen, um den Arbeitgebern einen Vorgeschmack zu geben, wie gut Aktionen auch in Pandemiezeiten funktionieren. In der Nacht zum 2. März lief die Friedenspflicht in der Metall- und Elektroindustrie aus – jetzt können die Warnstreiks beginnen. „Ich bin heute hier, weil wir sichere Arbeitsplätze von den Arbeitgebern fordern. Das ist für uns hier in der Region das Allerwichtigste“, sagt Ralf Neuser, der als Techniker bei einem Maschinenhersteller arbeitet und nun mit zwei Kolleginnen zur Menschenkette dazugestoßen ist. „Die Krise wurde bislang sehr stark auf unserem Rücken ausgetragen, zum Beispiel durch weniger Geld während der langen Kurzarbeit und durch unseren Verzicht auf eine Lohnerhöhung in der letzten Tarifrunde. Dadurch, dass die Arbeitgeber in den Verhandlungen nichts anbieten, müssen wir Beschäftigten uns jetzt bewegen und auch in Coronazeiten Stärke zeigen“, sagt er.
Seine Kolleginnen stimmen ihm zu. Die Tarifverhandlungen in der Metall- und Elektroindustrie sind in vollem Gange, doch die Arbeitgeber bewegen sich weder in Sachen Beschäftigungssicherung noch bei der Entgelterhöhung auf die Beschäftigten zu. Die IG Metall fordert in der Tarifrunde ein Volumen von vier Prozent für mehr Geld oder Beschäftigungssicherung in den Betrieben und will bessere Regelungen für Auszubildende und tarifliche Regelungen für dual Studierende durchsetzen. Außerdem sollen betriebliche Zukunftstarifverträge her. Auch in Siegen ist man mit der Haltung der Arbeitgeber nicht zufrieden. „Die Arbeitgeber behaupten, Lohnzurückhaltung würde Arbeitsplätze sichern, aber das hat es noch nie getan und das wird es auch in Zukunft nicht“, sagt Andree Jorgella, Erster Bevollmächtigter der IG Metall in Siegen.
Punkt fünf vor zwölf steigen knallrote Luftballons in den strahlend blauen Himmel. Andree Jorgella – jetzt mit Megafon in der Hand – hat das Startzeichen gegeben und die Beschäftigten lassen die mit Helium gefüllten Ballons fliegen. „Die Luftballons stehen für die Arbeitsplätze, die nach der Krise weg sein werden, wenn die Arbeitgeber jetzt nicht an der Beschäftigungssicherung festhalten“, sagt er. „Die kommen nicht wieder.“
Die IG Metall Siegen vertritt 16.000 berufstätige Mitglieder aus 130 Unternehmen. Über 9000 Beschäftigte kommen aus der Metallindustrie, aber auch die Zulieferer für die Stahlindustrie sind stark vertreten. „Es gibt viele Röhrenhersteller, die im Ölbereich tätig sind. Die werden in den nächsten Jahren keine richtige Auslastung haben und da müssen wir zusehen, dass wir hier eine vernünftige Beschäftigungssicherung haben und anständige Zukunftstarifverträge“, sagt Jorgella. Außerdem seien viele Unternehmen aus dem Stahlbau in der Umgebung ansässig, die als Zulieferer für Maschinen und Anlagen arbeiten – „und die haben jetzt aufgrund der Stahlkrise ein Problem.“ Langfristige, nachhaltige Lösungen sollen her, die den Beschäftigten Sicherheit geben und in die Zeit passen.
Insgesamt ist die wirtschaftliche Lage in Siegen-Wittgenstein gemischt. Manche Auftragsbücher füllen sich, während andere Arbeitgeber noch mit Kurzarbeit überbrücken. „Arbeit ist da, aber die Umsätze stimmen nicht, deshalb werden manche nach Hause geschickt, während wir anderen in der gleichen Zeit mehr arbeiten sollen“, sagt die Bürofachfrau und Betriebsrätin Gabriele Bottenberg. Von dieser Tarifrunde erhoffen sie und ihr Kollege sich deshalb auch mehr Geld – „weil alles teurer geworden ist“.
Die Arbeitgeber sehen das natürlich anders. „Keine zusätzlichen Steine in den Weg legen“ ist ihr Motto an diesem Tag. Auch sie beobachten die Menschenkette vor dem Haus ihres Verbands und fordern, die IG Metall solle auf „unnötige“ Warnstreiks verzichten. Andree Jorgella bereitet dagegen schon weitere Aktionen vor, am nächsten Tag ist eine Warnstreikaktion im Autokinoformat in Siegen geplant. Er sagt: „Unsere Botschaft an die Arbeitgeber ist, dass man auf neue Herausforderungen nicht mit alten Parolen antworten kann. Es geht jetzt darum, Lösungen auf Augenhöhe zu finden – gemeinsam mit den Beschäftigten und den Betriebsräten.“
Genauso schnell, wie sie sich aufgebaut hat, löst sich die Menschenkette wieder auf. Die Ordner gehen durch die Reihen und erinnern daran, dass der Abstand auch am Ende der Aktion eingehalten werden muss. „Es ist schön, mal wieder bekannte Gesichter zu sehen – auch hinter der Maske“, sagt eine Frau, bevor sie Richtung Auto läuft. Eigentlich hatten die Siegener Gewerkschafter mit 50 Teilnehmenden gerechnet, am Ende waren es 100 – „ein voller Erfolg“, wie Jorgella den Fernsehteams vor dem Haus der Arbeitgeber berichtet.