Fast 800 Meldungen über Arbeitsunfälle stapeln sich auf dem Schreibtisch des Leiters der Stuttgarter Gewerbeaufsicht Michael von Koch ― alle noch aus dem letzten Jahr. Ihm fehlt schlicht das Personal dafür. Vorsorgende Arbeitsschutzkontrollen in den Betrieben sind erst recht kaum noch drin. In den letzten 15 Jahren wurde die staatliche Gewerbeaufsicht in Baden-Württemberg drastisch zusammengespart und auf 48 Dienststellen verteilt. Die Gewerbeaufseher in Stuttgart etwa sind dem Umweltamt angegliedert und kontrollieren häufiger Wärmepumpen in Privathäusern als die Arbeitssicherheit in den Betrieben.
„Eigentlich ist der Staat verpflichtet, die körperliche Unversehrtheit seiner Bürger auch am Arbeitsplatz zu schützen ― doch dazu sind wir nicht mehr in der Lage“, kritisiert von Koch. Er ist Leiter der Fachgruppe Gewerbeaufsicht im Bund der Technischen Beamten (BTB). Seine Kollegen in der Fachgruppe aus den anderen Bundesländern sehen das ähnlich. Sie schlagen seit Jahren Alarm und fordern mehr Personal. Mit bundesweit knapp 1500 Arbeitsschutzkontrolleuren sollen sie 3,5 Millionen Unternehmen kontrollieren.
Die Betriebskontrollen der Gewerbeaufsicht sind in den letzten 20 Jahren um 71 Prozent zurückgegangen. Während das Auto alle zwei Jahre zum TÜV muss und der Schornsteinfeger jedes Jahr ins Haus kommt, taucht im Betrieb laut Berechnungen des BTB alle 30 Jahre mal ein Gewerbeaufseher auf. Immerhin gibt es noch eine zweite Instanz beim Arbeitsschutz. Auch die Berufsgenossenschaften (BG) der Gesetzlichen Unfallversicherung (GUV) schicken Kontrolleure. Allerdings überprüfen sie vor allem die technische Sicherheit, während die Gewerbeaufsicht mehr kontrolliert, etwa auch die Arbeitszeiten. Zudem werden die BGen von den Arbeitgebern finanziert und stehen im Ruf, weniger streng zu sein.
Zusammen kommen Gewerbeaufsicht und BG bundesweit auf etwas über 3600 Arbeitsschutzkontrolleure. Viel zu wenig für insgesamt 45 Millionen Beschäftigte. Damit verstößt Deutschland gegen die internationalen Mindeststandards der ILO und ist mittlerweile Schlusslicht in der EU, gemeinsam mit Ungarn und Bulgarien.
Zu den fehlenden Kontrollen kommen Lücken in den gesetzlichen Regelungen. Eigentlich sind Arbeitgeber verpflichtet, eine Gefährdungsbeurteilung durchzuführen und davon Maßnahmen abzuleiten. Doch viele halten sich nicht daran ― oder laden schnell was aus dem Internet. Zudem hat der Arbeitgeber viel Spielraum. Vor allem zu den psychischen Belastungen fehlen klare Vorschriften des Gesetzgebers. Das macht Kontrollieren schwierig. Bußgelder gibt es kaum.
Das alles hat Folgen: Jahrzehntelang ist die Zahl der Arbeitsunfälle gesunken, auch dank des technischen Fortschritts. Das ist seit Mitte der 2000er Jahre vorbei. Die tödlichen Arbeitsunfälle sind laut GUV von 2016 bis 2017 sogar erstmals wieder um 6,4 Prozent gestiegen. Und die psychischen Erkrankungen durch Stress und zu viel Arbeit nehmen massiv zu.
Die IG Metall kritisiert die Missstände seit Jahren. „Die Regelungslücken müssen geschlossen werden. Gerade psychische Belastungen werden durch digitale Transformation noch weiter zunehmen“, erklärt IG Metall-Vorstandsmitglied Hans-Jürgen Urban. „Und vor allem brauchen wir unbedingt wieder mehr Aufsichtspersonal.“
Es gibt jedoch noch eine dritte Instanz beim Arbeitsschutz: Auch Betriebsräte sind gesetzlich verpflichtet, die Gesundheit der Beschäftigten zu schützen und die Aufsichtsbehörden zu unterstützen. Dabei haben sie gesetzliche Mitbestimmungsrechte.
„Ein guter Betriebsrat zeigt dem Kontrolleur auch kritische Stellen, die der Arbeitgeber eher versteckt“, erklärt Heinz Fritsche, Vertreter der IG Metall bei der Berufsgenossenschaft Holz und Metall. „Unsere Kontrolleure sind nur für ein paar Stunden im Betrieb. Das reicht oft nur für das Abhaken der Gefährdungsbeurteilung.
Wir Gewerkschaftsvertreter bei der BG haben jedoch erreicht, dass unsere Kontrolleure jetzt die Weisung haben, im Betrieb immer nach dem Betriebsrat zu fragen.“ Früher war das nicht normal. Vom Besuch des BG-Kontrolleurs vor ein paar Jahren hat Betriebsrat Karl-Heinz Greth vom Heizungsbauer Bosch Thermotechnik in Wernau am Neckar durch Zufall erfahren. Der Kontrolleur saß beim Arbeitgeber und hatte schon ein Häkchen an den Punkt „Gefährdungsbeurteilung“ gemacht.
Doch das stimmte so nicht.
„Damals hat sich unser Arbeitgeber massiv gegen die Berücksichtigung der psychischen Belastungen wie Lärm oder Stress gesperrt, obwohl es das Gesetz vorschreibt“, erzählt Greth. „Wir mussten dafür 13 Jahre lang streiten und waren sieben Mal in der Einigungsstelle beim Arbeitsgericht.“
Der Kampf um die Gefährdungsbeurteilung hat sich gelohnt ― auch für die Firma: Der Krankenstand ist auch dadurch deutlich zurückgegangen. „Wir haben jetzt sogar eine eigene Gesundheitsabteilung“, berichtet Greth. „Aber ohne den Betriebsrat wäre da nicht viel passiert.“
Wenn der Staat und selbst namhafte Unternehmen ihre Pflicht nicht mehr erfüllen, sind Betriebsräte oft die Einzigen, die sich noch kümmern. Mit Betriebsrat gibt es mehr Arbeitsschutz. Das bestätigen Studien der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. Allerdings nur, wenn ersich kompetent und hartnäckig dafür einsetzt. So wie Bosch-Betriebsrat Greth. Er hat sich dafür auf Seminaren der IG Metall qualifiziert, bekommt Beratung und Rechtsbeistand von der IG Metall und tauscht sich im Arbeitsschutz-Arbeitskreis der IG Metall Esslingen regelmäßig mit anderen Betriebsräten aus.
Auch die Gewerbeaufseher im Fachbereich des BTB fragen immer nach dem Betriebsrat. Zwar gehen sie auch anonymen Beschwerden von Beschäftigten nach. Viel besser geht das jedoch, wenn sie konkrete Ansprechpartner im Betrieb haben, die vor Kündigung geschützt sind. „Das sage ich Beschäftigten, die sich bei uns melden, immer“, erklärt Gewerbeaufseher von Koch. „Wenn Ihr keinen Betriebsrat habt, müsst Ihr Euch unbedingt an die Gewerkschaft wenden und einen Betriebsrat aufbauen.“