Heike Schönefeld hat über die Jahre viele Industriebetriebe an der Sickingenstraße in Berlin-Moabit verschwinden sehen. Aber die Betriebsrätin und die knapp 220 Beschäftigten von Brose Berlin sind noch hier. Deshalb vergleichen sie sich gern mit dem kleinen gallischen Dorf von Asterix und Obelix. Doch das gallische Dorf der Metallerin wird immer größer, immer mehr „Unbeugsame“ kommen hinzu: Denn neben Autoteilen produzieren sie dort mittlerweile auch Antriebe für E-Bikes. Und die finden reißenden Absatz.
Eigentlich war das Werk mal ein Conti-Werk. 2008, im Jahr der großen Finanzkrise, hat es die Firma Brose übernommen. Der neue Eigentümer war bestrebt, die Produktpalette des Zulieferers zu erweitern und neue Geschäftsfelder zu besetzen. Eine gängige Strategie bei Brose, auf die auch die IG Metall pocht. Elektroantriebe für Fahrräder lautete die Idee für Berlin. Doch der Anfang war schwer. Die Arbeitgeber wollten schon das Handtuch werfen, doch Beschäftigte, Betriebsrat und IG Metall setzten sich für das neue Geschäftsmodell ein. Und so blieb Brose am Ball. Die Ausdauer hat sich gelohnt: Über eine Million Antriebe für E-Bikes haben die Berlinerinnen und Berliner seit 2014 gefertigt.
„Angefangen haben wir mit einer ganz kleinen Handfertigung, vielleicht 20 Teile in der Woche waren das“, erinnert sich Heike. „Heute sind allein in der Produktion 60 Leute beschäftigt. So produzieren wir pro Schicht und Linie 320 Antriebe“, ergänzt die Fertigungsmeisterin und Betriebsratsvorsitzende. Doch wie kommt ein Automobilzulieferer dazu, E-Bike-Antriebe zu produzieren? Die Antwort ist einfach: Mit Elektronik und Antrieben kennen sie sich in Berlin aus. Denn neben Parkbremsen und Kompressoren bauen die Beschäftigten an der Sickingenstraße vor allem Kühler- und Lüftermotoren.
Klar: Das sind auch Elektroantriebe, nur eine Nummer kleiner. „Die Bauteile sind sehr ähnlich“, bestätigt Heike. Ein großer Unterschied bestehe aber in der Fertigung. Die Metallerin erklärt: „Während unsere Automobilfertigung sehr automatisiert ist, läuft die Produktion von E-Bike-Antrieben eher manuell: 86 Einzelteile, viel Handarbeit“, bringt es die Fertigungsmeisterin auf den Punkt.
Eine Umstellung ist die Produktion für die Beschäftigten also schon, eine umfangreiche Qualifizierung brauchten sie aber nicht. Denn Qualifizierung wird in Berlin sowieso gelebt. Das haben sich die Beschäftigten bei Brose auch mit Arbeitszeit erkauft, ebenso die Sicherheit, dass am Standort an neuen Produkten und Geschäftsideen gearbeitet wird: Bei Brose Berlin haben sie seit einigen Jahren einen Ergänzungstarifvertrag. Aufgrund von wirtschaftlichen Schwierigkeiten war das die Bedingung der Brose-Gruppe dafür, dass sie sich zu dem Standort Berlin bekennt. Das heißt, die Beschäftigten arbeiten unentgeltlich rund 3,5 Stunden pro Woche mehr. Die IG Metall hat aber dafür gesorgt, dass die Hälfte dieser Zeit für Qualifizierungsmaßnahmen genutzt wird und dass am Standort auch wirklich an neuen Produkten gearbeitet wird. Das geschieht in der Vorentwicklung, die Heike Schönefeld gern „Ideenwerkstatt“ nennt.
Hier tüfteln 16 Beschäftigte – Ingenieure, Designer, Digitalisierungsexperten und ein Mechaniker – an Produkten, die in 20 Jahren gefragt sein könnten. Eine der Früchte der Ideenwerkstatt ist der E-Bike-Antrieb. Bei E-Bike-Herstellern auf der ganzen Welt sind die elektronischen Antriebe aus Berlin gefragt. „Wir kommen mit der Produktion kaum hinterher“, betont Heike. „Zwei Fertigungslinien laufen sieben Tage die Woche rund um die Uhr, sind also mit vier Schichtgruppen im Einsatz.“
„In Kürze wird noch ein dritter Prüfstand in Betrieb genommen und wir bauen weiter aus, stellen weiter Beschäftigte ein und bilden auch aus“, erklärt die Betriebsrätin. Die Kunden seien vor allem von der Qualität überzeugt, die ein mehrfach zertifizierter Automobilzulieferer mit seinen sehr gut ausgebildeten Fachkräften garantiert.
Dass es mit dem neuen Geschäftsfeld so gut läuft, gleicht das Schwächeln im Automobilbereich aus. Gerade hat Berlin drei Produktionslinien an das neue Brose-Werk im serbischen Pančevo verloren. „Stellen müssen wir aber dank der guten Entwicklung im E-Bike-Bereich nicht abbauen“, so Heike.
Generell sieht die Betriebsrätin den Autobereich als schwierig und schwer vorhersehbar an, auch wenn die Berliner gerade einen großen Auftrag von Tesla an Land gezogen haben. Dem E-Bike-Bereich wird hingegen ein rasantes Wachstum vorhergesagt: Im Jahr 2015 war nur jedes achte in Deutschland verkaufte Fahrrad ein E-Bike, 2020 bereits jedes dritte, Tendenz steigend. Bei Brose gehen sie davon aus, dass es bald jedes zweite Rad sein wird. Aus dem kleinen gallischen Dorf wird so wohl bald eine große Stadt.