Zumindest nimmt die Ungleichheit in Deutschland zu. Die Schere zwischen Top- und Geringverdienern öffnet sich. Das sorgt für Unmut. Dabei geht es nicht nur um die ungleiche Verteilung der Einkommen, sondern auch um die ungleiche Chancenverteilung. Hier in Berlin geht ein wachsender Anteil der Schüler auf Privatschulen. Die haben womöglich bessere Chancen im Wettbewerb um Ausbildungs- und Studienplätze. Das sind natürlich Kinder aus den oberen Einkommensgruppen. Die Einkommen der reichsten zehn Prozent steigen besonders stark.
Sebastian Dullien leitet seit 1. April das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung. Der 44-jährige ist außerdem Professor für Volkswirtschaftslehre an der Hochschule für Technik und Wissenschaft in Berlin.
Die Ungleichheit führt zur Spaltung. Die Einflussreichen werden noch einflussreicher. Das schwächt den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Außerdem schadet Ungleichheit langfristig dem Wachstum. Sie bedeutet, dass Menschen ausgeschlossen werden, ihr Potenzial im Erwerbsleben nicht ausschöpfen. Sie arbeiten dann vielleicht als Gebäudereiniger, obwohl sie schlau genug wären, Ingenieur zu werden. Das ist schlecht für die Wirtschaft.
Wir müssen darauf achten, dass überall gleiche Lebenschancen entstehen. Das bedeutet konkret: bezahlbarer Wohnraum,
gute Schulen, vernünftige Verkehrsanbindung, ordentliche medizinische Versorgung. Der Staat muss an vielen Stellen
stärker eingreifen und steuern.
Die Gewerkschaften sind in Deutschland eine Kraft, die der Ungleichheit entgegenwirkt. Aber die Tarifbindung hat abgenommen. Das hat mit gesetzlichen Rahmenbedingungen zu tun. Die Hartz-Gesetze haben die Verhandlungsposition der Arbeitnehmer geschwächt, weil sie Angst vor dem Abstieg erzeugt haben. Das muss der Gesetzgeber korrigieren.
Die Regierung könnte die Tarifbindung stärken, indem Tarifverträge leichter für allgemeinverbindlich erklärt werden können, damit es keine Armutslöhne gibt. Öffentliche Aufträge könnten nur an Unternehmen vergeben werden, die einen Tarifvertrag haben.
Auf jeden Fall. Industriemächte wie China betreiben eine sehr strategische Industriepolitik, fördern gezielt Schlüsseltechnologien. Wir dagegen sagen: Das muss der Markt richten. Wird er aber nicht. Es ist wie beim Fußball: Eine reiche Mannschaft, die sich Top-Spieler kaufen kann, spielt gegen eine mittellose Amateurmannschaft. Das ist kein faires Spiel.
Wir müssen Zukunftstechnologien identifizieren und fördern. Die öffentliche Hand könnte gezielt entsprechende Produkte kaufen, die noch dazu aus der EU stammen. Das würde eine gesicherte Nachfrage schaffen und damit Planungssicherheit für europäische Unternehmen. Das fördert Technologieentwicklung.
Es gibt Schwächesignale aus der Industrie, Maschinenbau oder Autoindustrie. Aber die Erwerbstätigkeit ist hoch und die Löhne steigen. Das stärkt die Inlandsnachfrage und trägt derzeit noch die Konjunktur. Es gibt weiter leichtes Wachstum. Aber es gibt große Risiken: den Brexit, die unberechenbare Handelspolitik von Donald Trump. In dieser Unsicherheit scheuen Unternehmen Investitionen. Sollten die Risiken Realität werden, kann das zu einem wirtschaftlichen Schock oder sogar einer Rezession führen.
Kluge Politik kann Konjunkturschwankungen dämpfen. Das haben wir in der Krise 2008/2009 gesehen. Damals hat die Regierung entschlossen gehandelt und Konjunkturpakete verabschiedet. Das hat Nachfrage erzeugt und die Zukunftserwartungen von Unternehmen und Konsumenten stabilisiert. Dadurch hat sich die Wirtschaft unerwartet schnell erholt.
Die Schuldenbremse ist ein großer politischer Fehler. Wenn der Staat in Infrastruktur oder Bildung investiert, dann profitieren spätere Generationen davon. Dafür kann man guten Gewissens Kredite aufnehmen. Die Schuldenbremse verbietet das. Dadurch wird die Steuerungsfähigkeit im Abschwung begrenzt.
Stromnetze, Straßen, Schienen, öffentlicher Nahverkehr, öffentlicher Wohnungsbau, Schulen. Die Liste ist lang.
Weil der Euro auf der Kippe steht. Viele Populisten wollen ihn abschaffen. Für die deutsche Wirtschaft wäre ein Auseinanderbrechen der Eurozone katastrophal ― vor allem für die Metall- und Elektroindustrie. Eine neu eingeführte D-Mark würde im Vergleich zum Euro massiv an Wert zulegen. Damit würden unsere Exporte im Ausland unerschwinglich. Der Export würde einbrechen.
Viele Menschen haben das Gefühl, dass Europa seine Versprechen nicht einlöst. In Italien sind die Einkommen heute niedriger als vor zehn Jahren. Wir brauchen Investitionen für mehr Wachstum. Länder im Abschwung brauchen Unterstützung. Von einer Stabilisierung Europas profitiert kaum ein Land so wie Deutschland. Das ist unser ureigenes wirtschaftliches Interesse ― gerade auch aus Sicht der Arbeitnehmer. Das sollte uns etwas wert sein.