1. Juni 2020
Christoph Böckmann
Fauler Trick
So geht die Mitbestimmung k.o.
Tesla baut in Deutschland ein Werk. Mitbestimmung soll es dort aber nicht geben. Kein Einzelfall. Durch europäisches Recht können neu gegründete, aber auch bestehende Unternehmen die im deutschen Recht verankerte Mitbestimmung umgehen.

Wie ist es möglich, Mitbestimmung zu umgehen?

Durch europäisches Recht. Seit Oktober 2004 haben Unternehmen bei der Wahl ihrer Rechtsform eine weitere Option: die Europäische Aktiengesellschaft (Societas Europaea, SE).


Ja und?

Nach deutschem Recht müssen Unternehmen ab einer bestimmten Größe Arbeitnehmer im Aufsichtsrat beteiligen. Ab mehr als 500 Beschäftigten zu einem Drittel, ab mehr als 2000 Beschäftigten paritätisch. Bei einer SE ist das anders. Sie fußt auf europäischem Recht. Eine SE unterliegt nicht dem deutschen Drittelbeteiligungs- oder Mitbestimmungsgesetz. Wer eine SE gründet oder ein Unternehmen zu einer SE umwandelt, hat die Möglichkeit, ganz auf einen Aufsichtsrat zu verzichten.


Gibt es in einer SE gar keine Mitbestimmung?

Jein. Ein Unternehmen darf nur eine SE gründen, wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer sich über die künftigen Beteiligungsrechte der Beschäftigten verständigt haben. Außerdem ist Voraussetzung, dass es schon eine Form von unternehmerischer Mitbestimmung gab. So gibt es durchaus Unternehmen, die die Rechtsform der SE wählten und bei denen es Mitbestimmung gibt. Eine paritätische Beteiligung gibt es beispielsweise bei der Traton SE oder der Bilfinger SE.


Wo ist denn dann das Problem?

Zwar müssen sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer vor der Gründung einer SE über die Beteiligungsrechte verständigt haben, doch die Beschäftigten sitzen hier nach europäischem Recht am kürzeren Hebel. In der Praxis können sich die Arbeitgeber querstellen. Denn wenn es nach sechs Monaten keine Einigung gibt, greifen gesetzliche Minimumstandards, die die Rechte der Arbeitnehmerseite massiv einschränken. Zum einen besagt die sogenannte „Auffanglösung“, dass der SE-Betriebsrat nur einmal im Jahr zusammenkommen darf. Zum anderen gilt für die Unternehmensmitbestimmung das Vorher-nachher-Prinzip.


Was ist ein Vorher-nachher-Prinzip?

Das Vorher-nachher-Prinzip besagt, dass nach der SE-Gründung das Mitbestimmungsniveau im Unternehmen gilt, das vor der SE-Gründung gegolten hat. Der Knackpunkt: Gab es zuvor keine Unternehmensmitbestimmung, wird es auch in Zukunft keine Beteiligung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Aufsichtsrat geben. „In den vergangenen Jahren gab es einen regelrechten Hype bei Arbeitgebern von kleinen und mittelständischen Unternehmen, ihre Firmen in eine SE umzuwandeln, kurz bevor sie die 500- oder die 2000-Mitarbeiter-Grenze erreicht haben“, musste Daniel Hay, Mitbestimmungsexperte der IG Metall, feststellen. Denn so schließen sie die Drittelbeteiligung beziehungsweise die paritätische Beteiligung aus, auch wenn die Mitarbeiterzahl nach Gründung der SE über diese Marken steigt.


Ist die Umwandlung in eine SE denn ohne Weiteres möglich?

Ein bisschen Aufwand ist schon nötig. Je nach Gründungsform müssen die Unternehmen unterschiedliche Anforderungen erfüllen. Beispielsweise können Aktiengesellschaften eine SE nur durch Verschmelzung gründen. Gleiches gilt, wenn sich ein Unternehmen in eine SE umwandeln möchte. GmbHs können hingegen eine Tochtergesellschaft oder eine neu geschaffene Holding in Form einer SE gründen.


Halten diese Anforderungen Unternehmen davon ab, mitbestimmungsfeindliche SEs zu gründen?

Nein. „SEs gibt es mittlerweile einfach zu kaufen“, weiß Hay. Und das geht so: Es gibt Firmen, die gründen über Umwege SEs, die nichts produzieren und keine Mitarbeiter haben. Bei einer solchen „Vorrats-SE“ handelt es sich um eine Briefkastenfirma. Der Clou dabei ist: Sie schließt die Mitbestimmung von Anfang an aus. Denn wo es keine Mitarbeiter gab, gab es natürlich auch keine Mitbestimmung. Durch das Vorher-nachher-Prinzip wird dieser Zustand durch die SE-Gründung für alle Zeiten zementiert.

Die mitarbeiterlose und damit mitbestimmungslose Vorrats-SE verkauft die Gründerfirma später für viel Geld an Unternehmen, die auf unkompliziertem Wege eine SE gründen wollen und dabei die Mitbestimmung ausschließen möchten. Die Vorrats-SE wird dann auf geschickte Weise in die bereits bestehende Konzernstruktur eingebaut.


Wer macht denn so was?

Ein Beispiel ist Tesla. Der amerikanische Konzern handelte für sein Werk in Grünheide genau so. „Tesla kaufte eine Düsseldorfer Vorrats-SE, änderte den Firmennamen und verlegte den Gesellschaftssitz nach Brandenburg“, erklärt Hay.


Ist das ein Einzelfall?

Nein. Seit Einführung der SE 2004 entstand ein Run auf diese Gesellschaftsform. In Europa gibt es fast 3300 SEs. Nur 700 davon sind normale Gesellschaften, die operativ tätig sind. 185 sind aktivierte Vorrats-SEs. In Deutschland gibt es etwa 390 normale SEs.


Was fordert die IG Metall?

Die IG Metall fordert von Unternehmen, die sich in eine SE umwandeln wollen oder das bereits getan haben, eine angemessene Mitbestimmung zu ermöglichen. „Auch wenn wir rechtlich in diesen Fällen schlechte Karten haben, finden wir häufig einen Weg, wie wir Druck an anderen Stellen auf den Arbeitgeber ausüben können, um ihn an den Verhandlungstisch zu zwingen“, erklärt Hay. Vom Gesetzgeber fordert die IG Metall gemeinsam mit den anderen Gewerkschaften des DGB, die Schlupflöcher zur Flucht aus der Mitbestimmung – etwa durch europäische und ausländische Unternehmensformen – zu schließen und Verstöße zu bestrafen.

 



Quelle: Institut für Mitbestimmung und Unternehmensführung (I.M.U.) der Hans-Böckler-Stiftung

 


| Das könnte Dich auch interessieren

Kontakt zur IG Metall

Link zum Artikel