1. November 2020
Simon Che Berberich
Rechtsschutz
Mit der IG Metall bis vors höchste Gericht
Doppelt bestraft: So fühlt sich Jürgen Lanzenberger, als er seinen Rentenbescheid erhält. Mit gewerkschaftlichem Rechtsschutz klagt er dagegen. Nun liegt sein Fall beim Bundesverfassungsgericht – und mit ihm die Hoffnungen vieler Metallerinnen und Metaller.

Wenn Jürgen Lanzenberger über seine letzten Berufsjahre spricht, klingt das wie die Beschreibung einer Achterbahnfahrt. Mühsames Bergauf, plötzliches Bergab.

Der Metaller lebt im Erzgebirge, in einer Kleinstadt nahe Zwickau. Nach der Wende verliert er seine Arbeit. Er schult um, fährt Lkw.

Schließlich heuert der gelernte Feinmechaniker als Maschinenbediener in einem Metallbetrieb an. Er stanzt Kupferteile für große Sicherungen, wie sie auf Schiffen verwendet werden. Der Lohn ist anfangs lausig: 4,37 Euro verdient er pro Stunde. „Dafür arbeitest Du?“, fragen Bekannte. Aber der Metaller will lieber zum Niedriglohn arbeiten, als zu Hause zu sitzen.

Dann organisiert sich die Belegschaft. Es gibt Warnstreiks, schließlich einen Tarifvertrag und deutlich mehr Geld.

Lanzenberger ist zu diesem Zeitpunkt 61. Es sieht so aus, als ob sein Berufsleben ein versöhnliches Ende nehmen würde. „Die Arbeit hat mir Spaß gemacht“, sagt er. „Ich wäre dort sogar noch länger als bis zur Rente geblieben.“

Aber der Arbeitgeber schließt den Betrieb, Verlagerung nach Ungarn. Lanzenbergers letzte Aufgabe: die Kollegen aus Ungarn anlernen. Dann wird seine Stanze auf einen Lkw verladen.

Statt endlich gutes Geld zu verdienen, muss er sich erneut arbeitslos melden. Knapp zwei Jahre später beantragt er die Rente ab 63. Er wähnt sich am sicheren Ufer – bis die Post von der Rentenversicherung kommt.

Als Jürgen Lanzenberger seinen Rentenbescheid in der Hand hält, zögert er nicht lange. Er fährt nach Zwickau in seine IG Metall-Geschäftsstelle. Er will sich wehren.

Denn die Rentenversicherung gewährt die Rente nur mit Abschlägen, rund zehn Prozent weniger pro Monat. Der Grund: Es fehlen Versicherungsjahre. Die Arbeitslosigkeit direkt vor Renteneintritt zählt bei der Berechnung nicht mit.

„Da war ich nicht gerade begeistert“, brummt der Metaller. „Ich fühle mich doppelt bestraft: Erst durch die Arbeitslosigkeit, dann durch die Abzüge bei der Rente.“

Als IG Metall-Mitglied erhält Jürgen Lanzenberger Rechtsschutz. Die Anwälte der DGB Rechtsschutz GmbH übernehmen seinen Fall. Er wird zum Musterkläger. Es beginnt ein Marathon durch die Instanzen. Landessozialgericht, Bundessozialgericht, und schließlich: Bundesverfassungsgericht. Dort liegt der Fall nun, nach rund sechs Jahren Rechtsstreit.

In dem Verfahren geht es um mehr als nur um Geld. Es geht um ein Prinzip des Rechtsstaats: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ So steht es im Grundgesetz.

Jürgen Lanzenberger fühlt sich aber nicht gleichbehandelt. Er erhält keine volle Rente, weil sein Betrieb zwar dichtmachte, der Mutterkonzern aber fortbesteht. Nur bei „Insolvenz oder vollständiger Geschäftsaufgabe“ berücksichtigt die Rentenversicherung die Arbeitslosigkeit vor Rentenbeginn.

Mit der Regelung wollte die Bundesregierung eine Frühverrentungswelle verhindern. Die Überlegung: Arbeitnehmer, die kurz vor der Rente stehen, könnten sich mit Arbeitgebern absprechen, eine Kündigung vereinbaren, zwei Jahre Arbeitslosengeld beziehen und danach direkt in Rente gehen. Aus der „Rente ab 63“ könnte so eine „Rente ab 61“ werden.

„Dieser Gedanke ist unerhört“, sagt Tjark Menssen, der die Verfassungsbeschwerde als Prozessbevollmächtigter führt. „Den Kollegen wird unterstellt, dass sie dazu neigen, den Sozialstaat zu betrügen.“ Gleichzeitig schwebe über ihnen der Verdacht, dass sie „gerne“ arbeitslos seien. „Ich kenne niemanden, bei dem das so ist“, sagt der Gewerkschaftsjurist.


Gleiches ungleich behandelt

Menssens Argumentation: Es gibt keinen Grund, unverschuldete Arbeitslosigkeit direkt vor der Rente anders zu behandeln als frühere Zeiten der Arbeitslosigkeit. „Da findet eine Diskriminierung statt“, sagt er. Das Gesetz verstoße gegen den Gleichheitssatz, nach dem der Gesetzgeber Gleiches auch gleich behandeln muss.

Wenn die Klage Erfolg hat, hätte das weitreichende Folgen: Die Rentenversicherung müsste Zeiten der Arbeitslosigkeiten umfangreicher anerkennen. Diese Abschläge bei der Rente ab 63 müsste sie wohl streichen – auch rückwirkend. Für Betroffene würde das bedeuten: mehr Rente pro Monat und eine Nachzahlung. Über die gesamte Rentendauer gerechnet geht es dabei oft um fünfstellige Beträge.

Bei Jürgen Lanzenberger füllen die Prozessunterlagen einen Aktenordner. Er ist froh, dass er den Rechtsweg nicht alleine gehen musste. Außerdem hofft er auf Gerechtigkeit. „Die Rente ab 63 ist verdient“, sagt er. „Bei schwerer körperlicher Arbeit ist man mit 63 fertig. Und für Arbeitslosigkeit darf man nicht noch mal bestraft werden.“


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