1. Oktober 2019
Metallzeitung
Woran erinnert Ihr Euch?
Sechs persönliche Geschich-ten von IG Metall-Betriebsräten und einem Vertrauensmann

Gregor Müller, 69, Betriebsrat  a.D., WDI Rothenburg: Die Wende hat mein Leben umgekrempelt. Ich habe vorher in der Forschung gearbeitet, und plötzlich war ich freigestellter Betriebsrat. Damals dachte ich an eine Übergangszeit, aber die zog sich hin bis zum Renteneintritt 2016.
Alles war neu, die Versprechungen und Hoffnungen auf ein besseres Leben waren groß. Dann kam die Ernüchterung. Massiver Personalabbau, menschliche Tragödien, viel Frust und Enttäuschung begleiteten mich in den 1990er Jahren. Unsere Firma hat überlebt. Für die, die dabei sein konnten, ergaben sich bessere Perspektiven. Trotzdem blieb es ein ständiger Kampf um die Durchsetzung von Beschäftigteninteressen. Die IG Metall war dabei eine wesentliche Hilfe!

Steffen Gebauer, 53, KSB: Spannende Zeiten! Wenn wir nach der Maueröffnung am 9. November 1989 in die Werkhalle kamen, mussten wir oft schmunzeln: Wieder hatte ein Kollege kurzfristig Urlaub genommen. Er wollte doch bloß mal nach „drüben“ gucken. Große Veränderungen standen an. Mancher Neubundesbürger glaubte, nur noch Rechte, aber keine Pflichten mehr zu haben. Was für ein Irrtum. Ab sofort wurden Ellbogen gebraucht!

Katrin Kümpfel, 57, SPIE SAG: Voller Freude kauften wir uns 1989 unseren ersten Farbfernseher. Doch wie ihn einschalten ohne Knöpfe? Ein Schraubendreher und andere spitze Gegenstände kamen zum Einsatz, dann die Erleuchtung: Die kleine Abdeckung vorn ist es, die wir drücken müssen… .

Tino Honsa, 47, MAN: Mit der DDR ging es so nicht weiter. Es musste etwas passieren. Aber der Westen? Ich sah nicht nur die Schokolade, die Bananen und das Reisen, sondern blickte auch skeptisch in die Zukunft: Wie wird es mit der Arbeit weitergehen? Inzwischen bin ich seit fast drei Jahrzehnten immer noch in der gleichen Firma. Für mich kam die politische Wende zum richtigen Zeitpunkt.

Thomas Grunow, S&G Automobil: Ich bin Baujahr 1971. 1989 war ich gerade mit meiner Ausbildung zum Karosseriebaufacharbeiter fertig geworden. Da wurde mir offeriert, dass ich zu den zweieinhalb Jahren Lehre noch ein Jahr draufpacken müsse, um im Westen als Facharbeiter und nicht nur als Hilfsarbeiter anerkannt zu werden. Dieses eine zusätzliche Jahr hat mein Wissen nicht wirklich erweitert.

Jens Kohlmann, KME: Geboren am 9. November 1981, war ich 1989 gerade mal neun Jahre alt. In der Phase des Umbruchs wurden in der Schule die DDR-Schulbücher eilig verbannt. Eine Kopierflut begann, Arbeitsblätter wurden verteilt und ganze Hefter angelegt. Unsere Lehrer sammelten Kopiergeld ein. Gebrauchte alte Schulbücher aus den alten Bundesländern wurden in den Unterricht eingebaut.
Ich erlebte eine ausgesprochene Willkommenskultur. Die Leute im Westen schenkten uns Schokoriegel und ein fliegender Händler fütterte meinen Bruder mit Bananen. Ich sehe bei dieser Szene noch heute meine Mutter vor mir mit peinlich gerötetem Gesicht. Die Geschichte der deutschen Teilung fesselt mich bis heute.



alt
Foto: Peter Franke
Heute gefragter Oldtimer (Foto von einem Oldtimertreffen im September 2019 in Leipzig-Holzhausen), damals einer der ersten Grenzgänger – der Trabant 601 aus Zwickau.

| Das könnte Dich auch interessieren

Kontakt zur IG Metall

Link zum Artikel