Beschäftigte ohne Tarifvertrag verdienen im Durchschnitt 3022 Euro netto weniger im Jahr. Das liegt an den geringeren Entgelten, aber auch daran, dass sie häufig kein Urlaubs- und kein Weihnachtsgeld bekommen und auch Zulagen und weitere Sonderzahlungen fallen meist geringer aus oder ganz weg. Die Beschäftigten sind aber nicht die Einzigen, die unter abnehmender Tarifbindung leiden: Dem Staat und der allgemeinen Bevölkerung entgehen jedes Jahr in Summe 130 Milliarden Euro durch die fehlenden Tarifverträge. Das hat der DGB jetzt auf Basis einer Sonderauswertung des Statistischen Bundesamtes erhoben.
Aber wie genau setzt sich diese enorme Summe zusammen? Durch die gedrückten Löhne und Gehälter ohne gute Tarifverträge entgehen dem Staat im Jahr rund 43 Milliarden Euro an Sozialversicherungsbeiträgen. Sozialversicherungsbeiträge wie die Krankenversicherung oder die Rentenversicherung werden prozentual vom Bruttolohn berechnet. Fallen diese niedriger aus, entfallen dem Staat folglich Gelder, die wieder an die Gemeinschaft je nach Bedürftigkeit verteilt werden können.
Dann sind da noch die geringeren Steuereinnahmen, die durch die Tarifflucht entstehen. Pro Jahr sind das 27 Milliarden Euro. Der dritte entscheidende Faktor ist die rückläufige Kaufkraft durch die niedrigen Löhne und Gehälter. Die Beschäftigten hätten – gäbe es eine flächendeckende Tarifbindung – rund 60 Milliarden Euro mehr auf dem Konto und könnten diese wieder in den Kreislauf der hiesigen Wirtschaft durch Konsum und Investitionen einbringen.
Regional machen sich große Unterschiede bemerkbar. Betrachtet man Ostdeutschland unter den Gesichtspunkten der fehlenden Sozialversicherungsbeiträge, den geringeren Steuereinnahmen und der sinkenden Kaufkraft durch niedrigere Löhne und Gehälter, fehlen hier im Gesamteffekt mehr als 31 Milliarden Euro. Im Westen in Summe sogar 99 Milliarden Euro.
Die Gewerkschaften kämpfen täglich für mehr Tarifbindung. Aktuell kämpft die IG Metall an der Seite der Beschäftigten des Fahrdienstleisters Moia – 100-prozentige VW-Tochter – um weg von Dumpinglöhnen nur knapp über dem Mindestlohn und hin zu einem Tarifvertrag zu kommen. Bei einem anderen Startup waren Beschäftigte und IG Metall gerade erfolgreich: Die 1300 Beschäftigten des Fahrradherstellers Canyon haben nicht nur einen neuen Tarifvertrag mit deutlich besseren Löhnen erkämpft plus Weihnachts- und Urlaubsgeld, ihre Arbeitszeit reduziert sich künftig auch auf 37,5 Stunden.
Gewerkschaften alleine werden den Kampf gegen die Tarifflucht nicht ausfechten können. Die Politik muss aktiv werden. Der DGB fordert, dass öffentliche Gelder und Fördermittel nur an Unternehmen gehen, die tariftreu sind. Die aktuelle Regierung hat in ihrem Koalitionsvertrag das sogenannte Tariftreuegesetz geplant. Das Gesetz soll die Forderung der Gewerkschaften umsetzen, staatliche Aufträge und Fördermittel nur an Unternehmen zu vergeben, die nach Tarif zahlen. Noch ist das Gesetz nicht da. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil hat Ende Oktober auf dem Gewerkschaftstag der IG Metall verkündet, das Gesetz solle noch dieses Jahr vorgelegt werden. Der DGB fordert weiter, dass es leichter werden muss, dass Tarifverträge einer Branche für alle Unternehmen allgemeinverbindlich erklärt werden.