Wenn Doris Werder vom Streik für die 35-Stunden-Woche erzählt, fallen große Worte. „Der Streik war eines der wichtigsten Ereignisse in meinem Leben“, sagt sie. „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man durch eigenes Handeln etwas verändern kann, dass wir gemeinsam etwas bewegen können.“
Die Metallerin arbeitet 1984 als Feingeräteelektronikerin bei Honeywell im hessischen Maintal. Sie ist im Betriebsrat aktiv. Die Belegschaft ist zum Großteil in der IG Metall organisiert – nicht nur die Werker in der Produktion, auch die Angestellten.
Wegen dieser Geschlossenheit wird Honeywell Streikbetrieb im Kampf um die 35 Stunden. Sechseinhalb Wochen dauert der Arbeitskampf, den Doris Werder im Frühjahr 1984 mit ihren Kolleginnen und Kollegen durchlebt.
Zu diesem Zeitpunkt diskutieren Metallerinnen und Metaller schon seit Jahren über eine Verkürzung der Arbeitszeit, über die steigende Produktivität und drohende Arbeitsplatzverluste.
Dabei geht es um mehr als ein paar Arbeitsstunden pro Woche. Wer bestimmt über meine Arbeitskraft? Wer entscheidet, wann und wie lange ich arbeite? Machtfragen stehen im Raum. Und eine Gerechtigkeitsfrage: Wie verteilen wir die vorhandene Arbeit fair?
Anfang der 80er-Jahre steigt die Arbeitslosenquote rasant. Die Industrie erlebt eine Automatisierungswelle: Computer, Roboter. Die Antwort der IG Metall: kürzere Arbeitszeit für alle statt Arbeitslosigkeit für viele.
Für diese Forderung treten am 14. Mai 1984 in Nordwürttemberg-Nordbaden 13 000 Metallerinnen und Metaller in den Streik. Eine Woche später folgen 33 000 Kolleginnen und Kollegen in Hessen.
Die Arbeitgeber wollen von der 35-Stunden-Woche nichts wissen. „Keine Minute unter 40 Stunden“ heißt ihre Ansage. Auf den Streik reagieren sie mit ihrer schärfsten Waffe: Aussperrung. Sie verweigern Beschäftigten den Zutritt in die Betriebe.
Durch die Aussperrungen können Hunderttausende nicht arbeiten, obwohl sie gar nicht direkt am Streik beteiligt sind. Sie erhalten auch keinen Lohn. Ziel der „kalten“ Aussperrung: den Arbeitskampf für die IG Metall unbezahlbar zu machen, sie zum Abbruch des Streiks zu zwingen.
Der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Heinrich Franke, verschärft die Situation zusätzlich. Er verweigert den Ausgesperrten das Kurzarbeitergeld. Metallerinnen und Metaller protestieren, vor und in den örtlichen Arbeitsämtern. „Franke, her mit den Moneten“ steht auf einem Plakat. Ende Mai 1984 demonstrieren in der damaligen Bundeshauptstadt Bonn 250 000 Beschäftigte für Arbeit und gegen die Aussperrungen. Die IG Metall klagt gegen den „Franke-Erlass“ – mit Erfolg. Die Arbeitsämter müssen das Kurzarbeitergeld auszahlen.
Mit Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) haben die Streikenden sogar den Regierungschef gegen sich. Kohl bezeichnet die 35-Stunden-Woche öffentlich als „absurd, dumm und töricht“. Viele konservative Zeitungen berichten negativ über den Streik.
Solche Meinungen bekommen auch die Hanauer Metallerinnen und Metaller zu spüren. Doris Werder steht während des Streiks oft mit Kolleginnen und Kollegen am Infostand. Von Passanten bekommen sie dort einiges zu hören: „Ihr Faulenzer“ und „Geht doch nach drüben!“
Doch mindestens ebenso groß ist der Zuspruch. Die Streikenden besuchen sich gegenseitig in ihren Betrieben. Sie singen gemeinsam. Anwohner bringen Kuchen. „Die Stimmung vor dem Werkstor hat mich am meisten beeindruckt“, erinnert sich Doris Werder. „Wir haben Solidarität gelebt, bei vielen hat sich ein neuer Stolz entwickelt.“
Nach fast sieben Wochen Streik schließlich der Durchbruch: Der schrittweise Einstieg in die 35-Stunden-Woche. Und der Kampf geht weiter: Nach massiven Warnstreiks folgt 1987 die 37-Stunden-Woche. 1993 geht es runter auf 36-Stunden. Im Oktober 1995 ist die 35-Stunden-Woche in den West-Bundesländern endgültig erreicht. In den ostdeutschen Tarifgebieten steht dieser Schritt noch aus.
Heute diskutieren Metallerinnen und Metaller wieder über reduzierte Arbeitszeiten. Allerdings unter anderen Vorzeichen: Es geht darum, die Transformation der Industrie zu stemmen und dabei niemanden zurückzulassen.