Wolfgang Lemb: Vereinfacht gesagt sind das alle Tätigkeiten, die an verschiedenen Standorten erbracht werden, damit ein Endprodukt seinen Weg zum Kunden findet. Ein Autohersteller etwa schürft ja nicht das Erz, aus dem Stahl für die Karosserien entsteht. Von den Rohstoffen bis zu Zulieferungen, dem Zusammenbau des Autos bis hin zum Händler findet eine ganze Reihe „Wertschöpfungen“ statt, bevor der Kunde das Auto in Empfang nehmen kann.
Stahl ist der wichtigste Grundstoff für die Autoindustrie und im Maschinenbau. Wenn ihre Kunden neue Anforderungen stellen, müssen die Stahlhersteller forschen und innovative Lösungen finden. Zum Beispiel sollen Autos leichter werden, damit sie weniger Energie verbrauchen und dadurch klimafreundlicher werden. Darum haben die Stahlhersteller viel in neue Stähle investiert. Gleiches gilt für den Maschinenbau. Die Stahl- und Autoindustrie sind auf Maschinen und Anlagen angewiesen, die die künftigen Herausforderungen – zum Beispiel mehr Energieeffizienz, also sparsamerer Energieverbrauch, oder Digitalisierung – mitdenken.
Das betrifft besonders die deutsche Stahlindustrie, die unter anderem durch Dumpingstahl aus China, Russland und anderen Ländern mit Herstellern konkurrieren muss, die teils Preise unter den Herstellungskosten bieten und wenig auf Sozial- und Umweltstandards geben. Für die Autoindustrie gilt, dass wir bei der Elektromobilität abgehängt werden könnten, wenn wir bis zur nächsten Batteriegeneration keine eigene Zellfertigung haben. Batteriezellen sind die wichtigste Technologie bei Elektrofahrzeugen. Werden die Zellen woanders entwickelt und gebaut, droht eine Verlagerung eines wesentlichen Teils der Autoindustrie. Das würde dann auch Stahlstandorte gefährden und hätte Auswirkungen auf den Maschinenbau in Deutschland.
Die Vorteile liegen in stabilen, engen Liefer- und Kundenbeziehungen. Die Kunden wünschen sich räumliche Nähe. Dadurch verringern sich auch die Kosten für Logistik. Es gibt außerdem keine Sprachbarrieren und unterschiedliche rechtliche Standards, so dass sich leichter Verträge abschließen lassen. Am wichtigsten ist aber, dass Innovationen in enger Abstimmung zwischen den Branchen entwickelt werden können. Dass wir diesen Vorteil behalten, ist besonders in Zeiten der Digitalisierung wichtig. So gibt es digitale Plattformen, auf denen der Lieferant erfährt, wann der Kunde beliefert werden will und mit welchem Produkt.
Genau darüber wollen wir auf der Wertschöpfungskonferenz sprechen. Die zentrale Frage ist: Wie können Politik, Unternehmen, aber auch wir als IG Metall dafür sorgen, dass Wertschöpfungsketten nicht brüchig werden? Eine unserer wesentlichen Forderungen ist, dass wir Investitionen einfordern und darauf drängen, dass – wie Helmut Schmidt es einmal formulierte – Gewinne von heute Investitionen von morgen und Arbeitsplätze von übermorgen werden. Das ist derzeit nicht der Fall. Gewinne werden verfrühstückt und nicht wieder in Maschinen, Anlagen und in die Köpfe und Gesundheit der Beschäftigten investiert. Ich sehe nicht, wie wir die Mega-Herausforderungen der Zukunft – Globalisierung, Digitalisierung, Klimawandel, demographischer Wandel – mit weniger statt mehr Investitionen bewältigen können.
Wir fordern, dass wir noch stärker als bisher darüber ins Gespräch kommen, was zu tun ist, um die Standorte und Arbeitsplätze in Deutschland zu halten. Es gibt heute schon regelmäßige Branchendialoge. Diese müssen weiterentwickelt und verbindlich für alle Branchen institutionalisiert werden. Wir brauchen den Staat aber nicht nur als Dialogpartner, sondern auch als Impulsgeber für Investitionen. China zum Beispiel investiert massiv in wirtschaftliche Schlüssel- und Leitbranchen, in moderne Infrastruktur sowie in Forschung und Entwicklung. Wir Europäer hinken da noch weit hinterher und drohen so Teile unserer Wertschöpfungsketten zu verlieren.