150 000 Euro haben die Beschäftigten des Autozulieferers Koyo in Halle, Westfalen, ihrem Arbeitgeber 2011 geschenkt. Nicht auf einmal, nicht alle und sie haben es ihm auch nicht in einem Geldkoffer übergeben – sie haben ihm Arbeit geschenkt, stundenweise. Jens Engelbrecht hat es ausgerechnet.
„Im Jahr 2012 sind bei uns 6 400 Arbeitsstunden verfallen. Für die Entgeltgruppe 12 kommt man auf 150 000 Euro, ohne Sozialabgaben“, sagt der Betriebsratsvorsitzende. 560 Menschen arbeiten am Standort in Bielefeld. Etwa die Hälfte, vor allem die höheren Entgeltgruppen, haben Gleitzeit. Ihre Stundenkonten hörten nach 20 Stunden auf, geleistete Arbeitszeit zu zählen. Der Betriebsrat hatte das vor 20 Jahren so geregelt. Er wollte verhindern, dass Beschäftigte ohne Ende arbeiteten. Schließlich würde doch niemand umsonst arbeiten. „So dachten wir damals“, sagt Engelbrecht.
Ein Irrtum, wie die Statistik zeigt. Knapp eine Milliarde unbezahlte Überstunden zählte das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) im vergangenen Jahr. Viele Menschen schauen am Arbeitsplatz nicht auf die Uhr. Wenn ein Projekt fertig werden muss, arbeiten sie bis in den Abend, mit Laptop und Handy auch im Urlaub und am Wochenende.
Überstunden, Zusatzschichten – die Arbeitszeit steigt in Ost und West. In der Metall- und Elektroindustrie gilt im Westen die 35- und im Osten die 38-Stunden-Woche. In der Wirklichkeit haben sich die Arbeitszeiten in Ost und West längst angenähert und lagen 2014 für Vollzeitbeschäftigte bei durchschnittlich bei 40 Stunden pro Woche.
Die Zeiten änderten sich schleichend. Betriebsrat Engelbrecht kann nicht sagen, wann es anfing. „Irgendwann fiel uns auf, dass die Leute kaum noch Zettel für Mehrarbeit abgaben.“ Niemand hat aufgemuckt, wenn die Arbeitstage länger und länger wurden. Der Betriebsrat schaute sich schließlich die Arbeitskonten an: 2011 waren 5 800 Stunden verfallen, 2012 waren es 6 400 und so ging es Jahr für Jahr.
Und so läuft es nicht nur bei Koyo. Die Arbeit muss schließlich gemacht werden. Kaum einer hinterfragt, ob es nicht einfach zu viel Arbeit für zu wenige ist. Die einen, weil ihnen ihre Arbeit Spaß macht. Die anderen, weil sie unter Druck stehen, weil Kollegen, der Chef, der Kunde warten. Viele hinterfragen ihre Arbeitszeit nicht, aber sie spüren, dass Arbeit und Privatleben aus der Balance geraten.
Bei der Beschäftigtenbefragung der IG Metall gab jeder Zweite an, sich bei der Arbeit gehetzt oder unter Zeitdruck zu fühlen. Vier Fünftel haben den Eindruck, dass sie in den letzten Jahren mehr Arbeit in der gleichen Zeit schaffen müssen. Genauso viele sind bereit, flexibel zu arbeiten. Sie wünschen sich Flexibilität aber auch dann, wenn es um ihre Bedürfnisse geht, wenn sie sich um Kinder, kranke oder ältere Angehörige kümmern müssen, wenn Zeit für Freunde und Hobbys brauchen oder wenn sie sich weiterbilden wollen.
Beim Autozulieferer Koyo in Halle haben sich die Zeiten inzwischen geändert. Arbeitszeit verfällt inzwischen nicht mehr. Vier Jahre lang bearbeiteten Betriebsrat Engelbrecht und seine Kollegen den Arbeitgeber. Sie rechneten den Kolleginnen und Kollegen vor, in welcher Entgeltgruppe sie wären, wenn man ihr Gehalt auf ihre tatsächlichen Arbeitsstunden umrechnet.
„Da hat so mancher geschluckt“, sagt Engelbrecht. 2015 war der Arbeitgeber schließlich bereit, über eine neue Vereinbarung zur Gleitzeit zu verhandeln. Die neue Vereinbarung begrenzt die Stundenkonten jetzt zwar auch bei 35 Plusstunden, regelt aber, was mit den Stunden, die darüber hinaus gehen, geschieht. „Arbeitszeit verfällt nicht mehr. Stunden oberhalb von 35 werden abgebaut oder bezahlt“, sagt Engelbrecht. Beim Betriebsrat kommen wieder Mehrarbeitszettel an und Engelbrecht führt Diskussionen, die er schon seit Jahren nicht mehr kannte. „In der Konstruktion reden wir jetzt über mehr Personal.“