Karl-Heinz Hageni: Nein, automatisch macht sie die Digitalisierung nicht zu Gewinnern. Den Ausschlag geben die Rahmenbedingungen. Das ist jetzt natürlich erklärungsbedürftig …
In der IT-Branche hierzulande gibt es derzeit enorme Verschiebungen. Bei den großen IT-Dienstleistern werden teils Stellen abgebaut beziehungsweise nach Indien oder in andere Offshore-Regionen verlagert. Das haben wir gerade bei Atos und T-Systems und auch bei HP erlebt. Die IT-Dienstleister haben das Problem, dass das, was sie anbieten, hochgradig standardisiert ist. Dadurch schlägt der globale Wettbewerb auf sie voll durch. Auf der anderen Seite suchen große Konzerne wie Automobilhersteller händeringend nach Programmierern. Dort werden Stellen aufgebaut.
In vielen Bereichen ist IT für Unternehmen bloßer Gebrauchsgegenstand beziehungsweise Kostenfaktor. Da geht es ausschließlich um Software und Services etwa zur Reisekostenabrechnung. Auf der anderen Seite wird IT durch die Digitalisierung für Unternehmen immer mehr zum strategischen Faktor. Sie kann Innovationen Vorantreiben, ganz neue Geschäftsmodelle möglich machen und alte verdrängen.
Bleiben wir bei der Automobilbranche und nehmen das Elektronische Stabilitätsprogramm von Autos als Beispiel. Das ESP ist vollgepackt mit Sensoren, die jede Menge Daten erfassen. Wann bei welcher Geschwindigkeit gebremst wurde, wie lange, wie häufig und mit welchem Druck. Jedes Mal, wenn ein Auto in die Werkstatt kommt, können diese Daten ausgelesen und zusammengeführt werden. Das sind viel mehr Informationen, als man sie bei Testfahrten oder im Testlabor messen könnte. Anhand dieser Auswertung können die Entwickler wichtige Rückschlüsse ziehen, wie Bauteile beansprucht werden und sich deren Qualität verbessern lässt. Ingenieure sprechen hier von Datengold.
Mit den Daten umgehen zu können, wird im Umkehrschluss goldwert. Stichwort: Big Data. Unternehmen werden beispielsweise mehr Datenanalysten brauchen. Die Stellen, die aufgebaut werden, verlangen also neue Kompetenzen.
Das sind auf jeden Fall wichtige Themen. In einem Smartphone sind schon heute über zwanzig Sensoren verbaut. Die messen etwa das Umgebungslicht, den Luftdruck, den Puls oder die Bewegungen. Diese Daten lassen sich über App-Schnittstelle nutzen, die inzwischen viele alltägliche Produkte mitbekommen. Die Herausforderung liegt nun nicht darin, diese Schnittstellen anzusprechen, also Produkt und App zu verknüpfen. Das kann man mit einer grundsoliden IT-Ausbildung schnell lernen. Die Herausforderung ist, die Möglichkeiten, die durch Sensoren entstehen, innovativ zu nutzen, erfinderisch zu sein und neue Lösungen und Anwendungen zu entwickeln. Der Wert kommt hier also dem kreativen Denken zu. Und dieser Wert kann enorm sein.
Ja. Sie werden in den Unternehmen zu Innovationstreibern. Das wiederum hat weitere Auswirkungen. Wir haben jetzt darüber gesprochen, welche technischen Kompetenzen die Digitalisierung notwendig macht. Damit einhergehen aber auch neue soziale Kompetenzen.
Grundsätzlich kann man sagen: Die Ansprüche steigen, was die Kommunikation betrifft, die über soziale Medien, vor allem aber die persönliche Kommunikation. ITler müssen immer öfter in interdisziplinären Teams arbeiten, zusammen mit Ingenieuren und anderen Experten. Dort müssen alle ihre Ideen einbringen und eine gemeinsame Sprache sprechen. Konsequenz: Die Arbeitsplätze vieler Programmierer sind nicht mehr in reinen IT-Abteilungen verortet, sondern in den jeweiligen Fachbereichen, so dass die Team-Mitglieder auch räumlich zusammensitzen. Gearbeitet wird zunehmend agil.
Bei agilen Arbeiten geht es darum, kundennah, flexibel und in kurzen Takten zu entwickeln. Lange und schwerfällige Planung soll vermieden werden. Dass während eines Entwicklungsprozesses neue Anforderungen aufploppen, wird als normal angesehen. Im Team werden dann Lösungen gefunden und weiter geht’s. Wichtig dabei ist Transparenz. Es geht nicht, dass ich ein Problem bemerke, aber trotzdem in meinem stillen Kämmerlein weiter vor mich hin arbeite. Ich muss mich dem Team mitteilen, wenn etwas nicht funktioniert. Das ist eine ganz neue Kultur. Viele sind es nicht gewöhnt, ihre Probleme sofort öffentlich zu machen.
Ganz wichtig dabei ist Vertrauen. Dafür setzen wir uns mit unseren Betriebsräten ein, dass Transparenz nicht zur Leistungskontrolle missbraucht wird. Außerdem müssen die Beschäftigten durch geregelte Arbeitszeiten eine gesunde Balance halten können und Gefährdungsbeurteilungen psychischem Stress entgegenwirken.
Zum einen fordert die IG Metall, dass sich die Beschäftigten in den neuen Kompetenzen weiterbilden können. Das ist vor allem für die genannten Beschäftigten mit den klassischen IT-Service-Skills wichtig. Sie bringen ja auch ein enormes Know-how mit. Das nicht zu nutzen, wäre ein strategischer Fehler. Denn – ich hatte eingangs nur einige wenige Beispiele genannt – was in der Branche insgesamt passiert, sind Umbrüche. Das muss man deutlich sagen. Mit leichten Anpassungsqualifizierungen ist es da nicht getan. Deswegen haben wir in der vergangenen Tarifrunde gemeinsam mit den Beschäftigten eine tarifliche Bildungsteilzeit erkämpft. Das ist schon mal ein Schritt in die richtige Richtung. Wichtig ist, dass sich unsere Betriebsräte für deren Anwendung stark machen.
Und, wir haben ja darüber gesprochen, dass sich die Rolle der IT-Beschäftigten in den Unternehmen stark wandelt: Diese Attraktivität wird bisher noch zu wenig nach außen transportiert. Die Tätigkeiten sind inzwischen interdisziplinär, vielfältiger und spannender. Eine IT-Ausbildung oder ein Studium können Grundlagen für die unterschiedlichsten Karrieren sein.
Einige schon, aber längst nicht alle. Wir, also IG Metall, Beschäftigte und Unternehmen, wir müssen jetzt gemeinsam dafür sorgen, dass sich die Kulturen und Strukturen in den Unternehmen ändern. Man kann nicht einfach zu den Beschäftigten sagen: Ihr arbeitet jetzt so und so, nutzt Entwicklungsmodelle wie Scrum und Kanban, gesteht den Angestellten aber nicht mehr Selbstbestimmung zu. Was die Beschäftigten jetzt brauchen, ist Empowerment. Die Unternehmen müssen wegkommen von einem Übermaß an Kontrolle, hin zu Vertrauen, Mitbestimmung und natürlich Sicherheit durch tarifvertragliche Regelungen.
Wichtig ist auch: Man muss Fehler machen dürfen. Eine Kultur, die das bestraft, wäre schädlich. Fehler gehören zu Innovationsprozessen einfach dazu. Das muss von den Führungskräften getragen werden. Was ich einen guten Ansatz finde: In manchen Unternehmen gibt es Modelle, die den Beschäftigten Freiraum für Kreativität schaffen. Dann ist etwa ein halber Tag pro Woche für eigene Ideen geblockt.
Durch Rückmeldungen in Seminaren in unseren Bildungsstätten weiß ich, dass die Beschäftigten durchaus Lust haben auf Agilität und Kreativität, frei von Hierarchien und traditionellen Karrieremustern. Alles in allem sind unsere Ausgangsbedingungen also gut. Um aber letztendlich erfolgreich zu sein, müssen wir ein alternatives Modell zum Silicon Valley entwerfen, das gute digitale Arbeit ermöglicht. Wenn uns das gelingt, werden von der Digitalisierung viele profitieren können.