Bisher ziehen Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften weitgehend an einem Strang, um die Industrie vor Schlimmerem zu bewahren. Die Arbeitgeberdachverbände sieht IG-Metall-Chef Jörg Hofmann schon kritischer.
Herr Hofmann, was machen Sie am 1. Mai?
Jörg Hofmann: Das ist eine gute Frage, denn da stellt sich eine gewisse Leere ein. Es ist das erste Mal, seitdem ich politisch aktiv bin – und das war ich relativ früh – dass ich mich nicht mit vielen anderen Leuten zusammen auf irgendeinen Platz oder eine Straße der Republik begeben werde.
Wann haben Sie letztmals am Maifeiertag keine Rede gehalten?
Seitdem ich 2003 Bezirksleiter in Baden-Württemberg geworden bin, gab es keinen 1. Mai mehr ohne Rede.
Macht Ihnen die Einschränkung des Demonstrationsrechts in der Corona-Krise eigentlich Sorgen?
Ja, weil mit dem Kontakt- und Versammlungsverbot Grenzen der politischen Handlungsfähigkeit – auch für Gewerkschaften – aufgezeigt werden. Wir haben zum Beispiel gerade mit viel Anstrengung in einem kleinen Betrieb in Sonthofen. . .
. . bei der Firma Voith . . .
. . . unter den Bedingungen der Pandemie eine Urabstimmung abgehalten und führen dort nun einen Arbeitskampf. Das läuft dann ähnlich wie im Freiluftkino – im Auto sitzend. Generell ist es gerade kein normales Arbeiten für Gewerkschaften, etwa bei der demokratischen Beschlussfindung. Tarifkommissionen können nur virtuell tagen. Debatten sind selten möglich. Gleiches gilt für den gesellschaftlichen Raum.
Die Bundesregierung wird von den Gewerkschaften gerade erstaunlich positiv bewertet – weil sie viele Wünsche durchbringen?
Wir haben als IG Metall früh drei große Themen benannt: die Sicherung von Unternehmen – und damit von Arbeitsplätzen – über Liquidität und Eigenkapital, die Sicherung von Beschäftigung und Einkommen durch Kurzarbeit und Zuschläge zum Kurzarbeitergeld sowie den Arbeits- und Gesundheitsschutz. Wir haben relativ schnell auf allen drei Feldern Reaktionen von der Regierung bekommen. Wir sehen partiell Verbesserungsbedarf, aber es ist nicht die Zeit, allgemeine Klagen über das Regierungshandeln anzustimmen. Was wir in so wenigen Wochen erreicht haben, ist mehr als beachtlich.
Finden Sie auch wie Bundesfinanzminister Olaf Scholz, dass die Zahlung von Dividenden und Boni unvereinbar ist mit den staatlichen Kredit- und Hilfsprogrammen?
Die Frage, welche Kriterien wir bei solchen Programmen hinterlegen, müssen wir breiter debattieren. Dazu gehören Dividenden und Boni für die Zeiträume, in denen Hilfsprogramme in Anspruch genommen werden – dazu gehört aber auch, dass über Liquiditätshilfen nicht Personalabbau und Sozialpläne finanziert werden dürfen. Ebenso sollten Unternehmen, die heute solche Hilfen beantragen, nicht beispielsweise morgen ihre Ausbildungszahlen nach unten fahren. Gesellschaftliche Verantwortung ist auch in dieser Hinsicht keine Einbahnstraße.
Das bedeutet?
Wir brauchen Kriterien für verantwortliches Handeln, wenn man öffentliche Unterstützung in Anspruch nimmt. Ein aktuelles Beispiel: Wer sich etwa auf der einen Seite klaglos 100 Prozent der Sozialversicherungsbeiträge bei Kurzarbeit erstatten lässt, auf der anderen Seite jedoch Sturm gegen Zuschüsse beim Kurzarbeitergeld zugunsten der Beschäftigten läuft, sucht schamlos allein seinen Vorteil. Es sind die Beitragszahler, die den Betrieben diese Entlastung der Unternehmen finanzieren und jetzt auch Hilfe einfordern.
Sie sprechen sich auch für ein Konjunkturprogramm in europäischer Koordinierung aus, weil die Produktion und der Vertrieb überall hochgefahren werden müssen. Sehen Sie sich da auf einer Linie mit den Automobilherstellern?
Ja, das ist ja keine Einschätzungsfrage – sondern eine Frage der harten Fakten. Diese sagen deutlich: jedes zweite Fahrzeug wird in Europa verkauft und ohne stabile europäische Lieferketten ist keine stabile deutsche Automobilproduktion möglich. Und Fakt ist auch: Die deutsche und europäische Wirtschaft ist davon abhängig, ob und wann diese Leitbranche wieder Aufwind hat.
Machen Sie sich die Forderung nach einer Abwrack- oder Kaufprämie zu eigen – oder wollen Sie da lieber noch eine Schamfrist verstreichen lassen?
Ich würde gerne erst mal schauen, ob meine Hypothese stimmt – dass sich der Markt mit dem Öffnen der Autohäuser nicht so zeigt, dass sich die Automobilproduktion wieder zügig nach oben entwickeln kann. Wir werden, so fürchte ich, in die Situation kommen, dass solche Kaufhilfen unvermeidbar sind. Ich würde aber davon absehen, jetzt schon als ersten Schritt nach ,Abwrackprämien’ zu rufen. Wir sollten die Zeit nutzen, darüber nachzudenken, wie solche Kaufhilfen aussehen könnten – auch im Kontext des ökologischen Wandels und der Dekarbonisierung.
Immer lauter werden die Rufe, dass nicht ausschließlich Autos mit alternativen Antrieben, sondern auch moderne Verbrenner in eine Absatzförderung eingebunden werden. Sehen Sie das genauso?
Es gibt da keine eindimensionale Lösung. Wir brauchen einen Anreiz, der CO-Emissionen wirksam nach unten bringt. Das kann eine klassische Verschrottungsprämie etwa für Euro-3-Fahrzeuge sein. Oder man baut eine Brücke in Richtung Elektrifizierung, etwa durch eine Turboprämie, die bei Leasing eines emissionsarmen Verbrenners in zwei oder drei Jahren beim Kauf eines elektrifizierten Fahrzeugs geltend gemacht werden kann. Auch für Handwerkerfahrzeuge könnten wir etwas tun. Wir brauchen für spezielle Käuferzugänge spezielle Lösungen. Nichts halte ich hingegen von einer Pauschallösung, wonach man jedem Käufer x-tausend Euro gibt. Die Diskussion über Vorschläge, die Kaufanreize mit den Zielen Beschäftigung und Klimaschutz unterstützen, ist jedenfalls eröffnet.
Noch sind die Gesamtbelegschaften durch die Kurzarbeit abgesichert – fürchten Sie wegen der großen Liquiditätsprobleme einen größeren Stellenverlust?
Im Bereich der kleinen und mittleren Betriebe stellt sich schon die Frage, wie tief und lange die Krise geht. Unsere Industrie ist nun mal geprägt von der Entwicklung des Fahrzeugbaus. Jeder weitere Monat Stillstand kann durch das Aufzehren von Eigenkapital höchst problematisch sein. Die Liquiditätshilfen sind auf jeden Fall notwendig. Wir müssen aber auch schauen, welche Stützungsmöglichkeiten es auf der Eigenkapitalseite gibt.
Weshalb Sie Ihren Plan eines Rettungsfonds für die Zulieferer forcieren, an dem sich Banken, Investmentfonds, Automobilhersteller oder der Staat beteiligen können?
Es gibt Zulieferer, die glänzend verdient haben – aber es gibt auch welche, die mit geringsten Margen die vergangenen Jahre überstanden haben. Die trifft es jetzt besonders hart. Für diese Unternehmen stellt sich die Alternative: entweder gehen sie in die Insolvenz oder aber es kommt ein Investor – das sind aber in der Regel Schnäppchenjäger ohne die Absicht einer nachhaltigen Standortentwicklung. Daher ist der Wirtschaftsstabilisierungsfonds wichtig. Allerdings müsste die Bundesregierung diesen noch um geeignetere Formen der Eigenkapitalstützung für die kleinen und mittleren Betriebe erweitern.
Wie konstruktiv verhalten sich die Arbeitgeberverbände?
In den Branchenverbänden haben wir durchaus die Bereitschaft für ein koordiniertes Vorgehen – um Standorte und Beschäftigten durch die Krise zu bringen, die neben der Pandemie auch eine ganz tiefe industrielle Rezession ist. Die Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA) oder Gesamtmetall erschöpfen sich dagegen in ideologischen Spiegelfechtereien, das ist schade. Im Moment verstärkt sich die Rezession eher noch, wenn ich den Zuwachs an Kurzarbeit oder die Auftragseinbrüche sehe. Bisher war es relativ einfach, weil alle auf die Kurzarbeit gesetzt haben. Jetzt kommt es darauf an, wie wir den Weg aus dem Tal schaffen, der deutlich länger sein wird. Die Maßnahmen zur Absicherung des Personals oder zu Investitionen in Zukunftsprodukte müssen jetzt getätigt werden. Da muss sich die Sozialpartnerschaft wirklich bewähren.
Einige Unternehmen dürften die Corona-Krise dennoch als Begründung für Abbau und Verlagerung nehmen?
Ich befürchte, dass sich solche Fälle im zweiten Halbjahr häufen werden.
Haben die Beschäftigten ihren Beitrag zur Bewältigung der Krise schon geleistet oder sehen Sie noch größere Opfer auf die Belegschaften zukommen?
Das wird zwar gerne unter den Tisch gekehrt, ist aber wichtig: Es gab bereits einen großen Beitrag der Beschäftigten – wie den Abbau der Arbeitszeitkonten oder des Urlaubs – das hat in den ersten Stillstandswochen die Situation stabilisiert. Jetzt kommen wir in die klassische Kurzarbeit. Wenn nun der Druck auf die Kosten größer wird und der Personalabbau in den Vordergrund tritt, bewegen wir uns in eine schwierige Zeit hinein, in der die IG Metall ihre Konfliktfähigkeit zeigen wird.
Das Interview ist am 29. April 2020 in der Stuttgarter Zeitung erschienen. Autor: Matthias Schiermeyer.
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