INTERVIEW IN DER BERLINER ZEITUNG
„Wir demonstrieren gegen das Nichtstun“

IG-Metall-Chef Jörg Hofmann fordert mehr Engagement von Arbeitgebern und Politik beim digitalen Wandel

29. Juni 201929. 6. 2019


Für diesen Samstag hat die IG Metall zu einer Großkundgebung vor dem Brandenburger Tor aufgerufen. Die Gewerkschaft erwartet Tausende Demonstranten aus den gesamten Bundesgebiet. Unter dem Schlagwort "#FairWandel" wollen sich die Metaller für einen sozialen und ökologischen Wandel der Industrie stark machen.

 

Herr Hofmann, ist die Digitalisierung eher Segen oder eher Fluch?

Jörg Hofmann: Weder noch. Sie ist beides.


Warum?

Grundsätzlich ist das Zusammenwirken zwischen Mensch und Maschine gestaltbar. Klar, es gibt Risiken. Da geht es um die Möglichkeit permanenter Kontrolle, um Leistungsverdichtung und um den Verlust an Handlungsoptionen. Wenn die Datenbrille alles vorgibt, bleibt für den Beschäftigten wenig übrig. Aber es gibt auch viele Chancen, die in der Digitalisierung
liegen.


Was sind die positiven Facetten?

Die gleiche Datenbrille kann auch dazu dienen, dem Menschen komplexe Entscheidungen zu erleichtern, indem Informationen etwa über Maschinenstörungen direkt abrufbar sind. Körperliche Belastungen könnten zurückgehen, viele Tätigkeiten könnten anspruchsvoller werden. Wenn die Beschäftigten in die Gestaltung von Technik und Organisation im Betrieb einbezogen werden, dann kann die Arbeit eine neue, bessere Qualität gewinnen. Daneben steht die Frage, wie sich insgesamt die Beschäftigtenstrukturen ändern und welche Qualifikationen dann gebraucht werden.


Wie verändern die sich?

Auf jeden Fall so, dass wir unbedingt eine Qualifizierungsoffensive benötigen. Millionen von Beschäftigten werden innerhalb kurzer Zeit andere Tätigkeiten auszuführen haben als heute.


Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) sagt, es würden durch Digitalisierung mehr Jobs entstehen als wegfallen.

Wie sich die Beschäftigung unterm Strich entwickeln wird, kann heute niemand verlässlich sagen. Auch wenn es mehr Arbeitsplätze geben wird, ist noch offen, wo sie entstehen werden: in Deutschland oder im Ausland, unter geregelten, guten Arbeitsbedingungen oder prekär und schlecht bezahlt. Klar ist: Wir stehen vor einem tiefgreifenden Wandel. Dazu gehören auch die Verkehrs- und die Energiewende. In der Vergangenheit war es so, dass solche Veränderungen in der Arbeitswelt häufig zu neuen, erfolgreichen Geschäftsmodellen geführt haben.


Sie sind zuversichtlich, dass das auch bei der Digitalisierung so sein wird?

Ja. Die entscheidende Frage ist, ob es uns gelingt, aus technischem Fortschritt auch sozialen Fortschritt zu machen. Und dazu gehört auch, dass die Digitalisierungsgewinne in gute Arbeit für alle investiert werden.


Wie groß ist bei den Arbeitnehmern die Angst, abgehängt zu werden?

Das ist je nach Branche und Betrieb sehr unterschiedlich. Die Skepsis ist dort besonders hoch, wo die Beschäftigten nicht einbezogen werden. Jedes zweite Unternehmen in Deutschland hat sich mit Antworten auf die Digitalisierung entweder noch nicht oder noch nicht ausreichend beschäftigt. Die sind blank. Da gibt es wenig Ideen, wie Digitalisierung für neue Produkte der für bessere Prozesse genutzt werden kann.


Woran liegt das?

Hinter uns liegen fast zehn Jahre beständiges Wachstum. Die Auftragsbücher sind voll. Da stellt sich eine gewisse Bräsigkeit ein. Dabei werden Betriebe, die sich der digitalen Transformation nicht stellen, über kurz oder lang schwere Probleme im Wettbewerb bekommen und schlimmstenfalls vom Markt verschwinden. Das ist ein Hochrisikospiel zulasten der Beschäftigten.


Diesen Samstag soll es eine Großdemonstration der IG Metall geben. Im Fokus stehen dabei neben digitaler Transformation auch Verkehrs- und Energiewende. Wogegen wollen Sie da eigentlich demonstrieren?

Wir demonstrieren gegen das Nichtstun von Arbeitgebern und Politik angesichts der großen Veränderungen, vor denen unsere Arbeitswelt steht. Es geht darum, dass niemand unter die Räder kommt, arbeitslos wird oder in prekäre Jobs abgeschoben wird. Die technische Entwicklung darf nicht zu Strukturbrüchen führen.


Was heißt das?

Unser Ziel ist, dass die Arbeitgeber ihre Investitions- und Innovationsstrategien offenlegen, strategische Personalentwicklung und Qualifizierung für alle zur Praxis wird und dass sie Zukunftsvereinbarungen mit den Betriebsräten schließen, die die Sicherheit der Beschäftigung garantieren. Wir demonstrieren aber auch gegen Planlosigkeit in der Energie- und in der Verkehrspolitik. In den vergangenen Jahren sind 4000 Arbeitsplätze in den Bereichen Windkraft und Gaskraftwerke verloren gegangen. Und es fehlt an Verlässlichkeit beim Ausbau der Elektromobilität. Das fängt schon bei der Ladeinfrastruktur an.


Sind Sie eigentlich zufrieden mit der neuen Weiterbildungsstrategie der Bundesregierung?

Das Problembewusstsein wächst. Aber beim Thema Weiterbildung vermisse ich noch die notwendige Entschlossenheit. Das zeigt auch die Weiterbildungsstrategie. An vielen Stellen - zum Beispiel bei unserer Forderung nach einem Transformationskurzarbeitergeld - stehen nur Prüfaufträge.


Was genau soll das Transformationskurzarbeitergeld bringen?

Die alte Mannschaft zu entlassen, ist heute angesichts des Fachkräftemangels keine Option. Wir brauchen eine kluge Weiterqualifizierung, um Brücken zu bauen, ohne Entlassung. Das lässt sich mit unserem Vorschlag für ein Transformationskurzarbeitergeld absichern. Wenn Arbeitsvolumen wegfällt, weil alte Produkte auslaufen, werden die Beschäftigten nicht auf die Straße gesetzt, sondern weiterqualifiziert für die Tätigkeit an neuen Produkten. Die Alternative dazu wäre in vielen Fällen Vorruhestand und Frühverrentung.


In welchen Branchen und Regionen werden Jobs relativ gefährdet sein?

In der Kommissionierung stehen viele Arbeitsplätze auf der Kippe - da geht es oft um Jobs, die keine Fachausbildung verlangen. Und wenn es um Kraftwerksbau oder um Zulieferer für den Verbrennungsmotor geht, droht in einigen Regionen steigende Arbeitslosigkeit. Ich denke da beispielsweise an Eisenach, an Mittelhessen und an das Saarland.


Das bedeutet: Elektromobilität kostet massiv Jobs?

Ja, das stimmt. E-Autos fressen Jobs auf. Das muss man ganz nüchtern feststellen. Wir müssen aufpassen, dass in den besonders betroffenen Regionen keine industriellen Wüsten entstehen. Für sie brauchen wir gute, neue Ideen und Instrumente einer präventiven Strukturpolitik, um industrielle Arbeitsplätze in den Regionen zu sichern.

 

Das Interview ist am 29. Juni 2019 in der Berliner Zeitung erschienen. Autor: Rasmus Buchsteiner.

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