23. Juli 2014
Wer bestimmt über die Zeit?
Flexible Lösungen müssen her – zugunsten der Beschäftigten
Die IG Metall hat die Vereinbarkeit von Arbeit und Leben ganz oben auf ihre Agenda gesetzt. Die Botschaft: Flexibilität darf keine Einbahnstraße sein – schreibt Jörg Hofmann im Gastbeitrag für das „Handelsblatt“. Die entscheidende Stellschraube dafür ist die Zeit.

Blättern Sie weiter, wenn Sie Schlagzeilen lesen wie: „Die Beschäftigten in Deutschland sind arbeitsmüde.“ Sie sind falsch: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind leistungsbereit und flexibel. Das ist ein wesentliches Ergebnis der IG Metall-Beschäftigtenbefragung aus dem vergangenen Jahr. Über 500 000 Menschen haben sich beteiligt und so eine wertvolle Orientierung für die Zielsetzung der IG Metall in den nächsten Jahren gegeben.

Die Ergebnisse zeigen eindeutig: Die Beschäftigten richten ihr Leben am schnellen Rhythmus der Arbeit aus – das Engagement ist groß. Doch die Belastungsschraube wird zu oft überdreht. Es ist Alltag geworden, immer erreichbar zu sein, auch ad hoc einzuspringen, wenn ein Projekt das erfordert, oder bis tief in die Nacht zu arbeiten. Ständiger und zunehmender Leistungsdruck verschärfen die Situation, Arbeitszeiten ufern aus.

Auf der Strecke bleibt, den persönlichen Alltag selbst bestimmen und das Leben längerfristig planen zu können. Wertschätzung geleisteter Arbeit verlangt aber auch Respekt vor individuellen Lebensentwürfen und Ansprüchen der Beschäftigten. Deshalb hat die IG Metall die Vereinbarkeit von Arbeit und Leben ganz oben auf ihre Agenda gesetzt. Die zentrale Botschaft lautet: Flexibilität darf keine Einbahnstraße sein. Die entscheidende Stellschraube dafür ist die Zeit. Wer bestimmt über deren Verteilung, und wer hat die Verfügungsgewalt? – Darum geht es. Notwendig sind flexible Lösungen, nicht diktiert von den Unternehmen.

Wir brauchen Arbeitszeitmodelle, die auf unterschiedliche Lebensphasen und Lebenssituationen Rücksicht nehmen, und zwar im Rahmen unbefristeter Arbeitsverträge mit sicherem Einkommen. Kurzum, wir brauchen ein neues Normalarbeitsverhältnis. Das ist die gesellschaftlich notwendige andere Seite der Medaille der steigenden Flexibilitätsanforderungen einer globalen Industrie. Diese Anforderung werden wir Schritt für Schritt angehen.

In der anstehenden Tarifbewegung für die Metall- und Elektroindustrie startet die IG Metall mit zwei wichtigen Themen. Wir brauchen an der persönlichen Lebenslage orientierte Übergänge vom Arbeitsleben in die Rente. Die Beschäftigten, die lebenslang schwere Arbeit leisten, wie Schichtarbeiter, Arbeiterinnen im 40-Sekunden-Takt oder Außenmonteure, sollen auch in Zukunft früher als zum gesetzlichen Rentenzugangsalter ausscheiden können. Daneben benötigen wir Angebote für eine schrittweise Reduzierung der Arbeitszeit im Alter, was auch dazu beiträgt, Erfahrungswissen länger im Betrieb zu halten. Für beide Modelle muss der Tarifvertrag passgenaue Teilzeitmodelle und einen Entgeltausgleich durch Aufstockungsbeträge organisieren.

Als Antwort auf drohenden Fachkräftemangel brauchen wir eine Bildungsoffensive in Fabriken und Büros, die Hemmschwellen beseitigt. Auch hier geht es um Zeit und Geld. Wer mit Familie kann es sich schon leisten, ein Jahr auszusteigen, um einen Berufsabschluss nachzuholen, den Techniker oder den Master zu machen? Und wer riskiert hierfür seinen unbefristeten Arbeitsvertrag?

Tariflich geförderte Bildungsteilzeit ist eine Antwort. Der Wille zur Weiterbildung ist groß und auch bei weniger Qualifizierten vorhanden. Die Behauptung von Gesamtmetall-Präsident Rainer Dulger, dass damit der Schichtarbeiter dem Ingenieur das Masterstudium bezahle, zeigt nur die Grenzen von Arbeitgeberfantasien, wenn es um berufliche Entwicklung geht. Aber Deutschland wird es sich in Zukunft nicht mehr leisten können, Weiterbildung als Privileg von Akademikern zu sehen.

Die IG Metall will Chancen für alle. Die Entwicklung der Arbeitswelt zur „Industrie 4.0“ bringt die Verlagerung von komplexen Aufgaben in die Produktion. Darauf hat jüngst das Fraunhofer-Institut hingewiesen. Es geht nicht primär um kurzfristige Anpassungsqualifikation für neue Maschinen oder Programme, sondern darum, nachhaltig berufliche Entwicklungschancen und Kompetenzpotenziale im Betrieb durch erweiterte arbeitsmarktfähige Abschlüsse zu erhöhen.

Es muss Schluss sein mit dem oft selbstgefälligen Schulterklopfen der deutschen Industrie, wenn es um Beiträge zur Stärkung des Fachkräftepotenzials geht. Demografischer und industrieller Wandel verlangen zwingend, mehr und neue Wege zu gehen.
 

Jörg Hofmann, Zweiter Vorsitzender der IG Metall, erreichbar unter: gastautor@handelsblatt.com


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