Leistungsschrauben: Besser, schneller, weiter, mehr ...
Mensch, nicht Maschine

Seit Jahren drehen Arbeitgeber die Leistungsschraube in den Betrieben höher. An den Bändern werden die Takte von Jahr zu Jahr zu kürzer und selbst Entwickler arbeiten wie am Fließband. Wer sich fremdbestimmt fühlt, wird auf Dauer krank. Dabei sind wirtschaftlicher Erfolg und gesunde Arbeit gar ...

29. November 201129. 11. 2011


... kein Widerspruch.

Das Band steht still. Für Ulrich Hedtke das Schlimmste, was passieren kann. „Wahrscheinlich wieder Fehlalarm“, grummelt der 51-Jährige. „Die Kontrollkameras reagieren sehr empfindlich. Da muss nur ein bisschen Staub drauf sein und schon melden sie einen Fehler am Bauteil.“ Im schnellen Takt der Fahrwerkproduktion bei Daimler in Bremen ist eigentlich jede Pause willkommen. Aber sie ist nicht vorgesehen. Sie zerreißt den Takt des Bandes. Sie bedroht fein kalkulierte Ziele und Zahlen. Deshalb muss jede Störung sofort behoben werden. Wenn das Band steht, kriegt der Vorgesetzte einen Anruf. Ein Dauerton, der an den Nerven zerrt.

Beim Autobauer steigt der Arbeitsdruck mit jedem neuen Modell. Die Triebfeder dafür sieht Ralf Wilke, Leiter der Vertrauensleute bei Daimler in Bremen, im Weltmarkt. „Da wird verglichen, was brauchen andere Hersteller für diese Baureihe, was brauchen wir.“ Bei jedem Modellwechsel wird ein bisschen mehr Zeit eingespart und wieder mehr aus den Menschen herausgeholt. Das Ziel heißt: Erster werden. Und so rennt Ulrich Hedtke nicht nur mit dem Band in Bremen um die Wette, sondern auch mit seinen Kolleginnen und Kollegen in Autofabriken rund um die Welt.

Nicht einmal Nase putzen ist möglich

Als Hedtke vor 25 Jahren bei Daimler anfing, gab es noch Viertelstunden-Takte. In den letzten Jahren schrumpften Takt und Arbeitsinhalte im gleichen Rhythmus. Heute bleiben ihm weniger als 80 Sekunden, um seinen Teil der Arbeit an einem Fahrzeug zu erledigen. „In der Halle, in der ich vorher war, hatte ich vier Minuten. Als ich hierher wechselte, musste ich vier Mal so oft routieren. Anfangs wurde mir richtig schwindelig.“ Dennoch hat er es gut getroffen, findet der Kfz-Mechaniker: „Andere haben Arbeitsplätze mit 98 Prozent Auslastung.“ Übersetzt bedeutet das: Sie können sich zwischendurch nicht einmal die Nase putzen.

Arbeitswissenschaftler wie Wolfgang Menz vom Münchner Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung (ISF) beobachten solche Entwicklungen bei vielen Unternehmen. Arbeitgeber schauten nicht mehr darauf, was ihre Belegschaft schaffen kann, sondern geben Ziele vor. Immer mehr, immer besser, immer schneller, mit immer weniger Leuten.

Viele setzen dafür auf eine neue Zauberformel: Ganzheitliche Produktionssysteme. Was klingt wie ein anthroposophisches Wohlfühlprogramm, ist in der Praxis vieler Betriebe Synonym für harte Fließbandarbeit. Oft wird die Arbeit in kleine Einheiten zerstückelt, die in immer kürzerer Zeit erledigt werden müssen. Dabei treibt das System unmenschliche Blüten. Nicht nur der Takt wird festgelegt, sondern auch jeder Schritt und jeder Handgriff innerhalb einer Arbeitseinheit. „Nur Parallelbewegungen, kein Vor oder Zurück“, heißt es beispielsweise in den Regeln zumAufbau einer Produktionslinie. Manchem Betriebsrat bleibt da nur Zynismus: „Die Menschen sind mit einer Maschine verheiratet, mit der sie doch nicht einmal befreundet sein wollten.“

Die Hölle ist überall

Viele Beschäftigte spüren die Peitsche, die die internationale Konkurrenz in ihrem Rücken schwingt. So manche Halle heißt in der Belegschaft nur noch „Hölle“. DieUnterschiede sind minimal: In dem einen Betrieb ist es die Hölle 9 und im anderen die Hölle 1. Der Gesundheit schadet jede Hölle. Denn für viele Arbeitsmediziner steht der Zusammenhang zwischen einer Arbeitswelt, in der mit immer härteren Bandagen gekämpft wird, und den seit Jahren steigenden psychischen Erkrankungen längst fest. Angesichts ständig neuer Anforderungen belastet viele Beschäftigte vor allem der Blick in die Zukunft, sagt der Arbeitswissenschaftler Menz. „Was ich heute geleistet habe, reicht morgen nicht mehr.“ Da frage sich mancher: Wie soll das weitergehen?

Lange kann es nicht mehr weitergehen, denkt Daimler-Vertrauensmann Ralf Wilke. „Natürlich können wir heute nicht mehr produzieren wie vor 20 Jahren. Aber es gibt Grenzen.“ Und die sieht er langsam erreicht. Die Mannschaft in Bremen wird älter, in einigen Bereichen liegt das Durchschnittsalter bereits bei 46 Jahren. „Wir müssen wieder zu längeren Takten kommen“, sagt Wilke. „Und auch zu mehr Abwechslung bei der Arbeit.“ Die enge Taktung, das ständige Wiederholen einzelner Handgriffe in immer kürzerer Zeit verschleißt Körper und Geist. „Die Arbeit ist sinnentleert. Wer das zehn Jahre gemacht hat, wird Schwierigkeiten bekommen, noch einmal etwas anderes zu machen, geschweige denn etwas Neues zu lernen.“

Rädchen im Getriebe

Arbeitnehmer, die nur ein Rädchen im Getriebe sind und jederzeit austauschbar – bei diesem Bild denken viele an Beschäftigte in der Produktion. Nun greift das System auch auf die Schreibtische von Angestellten und Entwicklern über. Zum Beispiel beim badischen Softwarehersteller SAP in Walldorf. Vor etwa drei Jahren führte das Unternehmen in großem Stil „Scrum“ ein. Danach sollen sich Teams zusammenfinden und festlegen, was sie leisten können.

Doris Vielsack, Betriebsrätin und Entwicklerin bei SAP, ahnte schon, dass sich dahinter nicht allzu viel Gutes verbirgt. „In der Praxis gibt es Termine, die von außen festgelegt werden und innerhalb eines Taktes erledigt werden müssen.“ Je nach Team dauert der Takt zwei oder vier Wochen. Das heißt: Alle zwei oder vier Wochen müssen die Teams Ergebnisse liefern. Alle zwei oder vier Wochen legen sie neue Ziele fest. Im sogenannten „daily scrum“ muss jeder täglich berichten, was er bislang geschafft hat. „Das setzt natürlich alle unter Druck.“

Doris Vielsack fühlte sich in diesem System verunsichert und fremdbestimmt. Andere litten so sehr unter dem Druck, dass schon mal Tränen flossen. „Früher fühlte man sich als Kapazität. Durch die festgelegten Konzepte und die kleinteilige Arbeit im Team ist man nur noch eine kleine Entwicklerin, jederzeit austauschbar.“ Zeit, die die Angestellte in die tägliche Präsentation steckte, fehlte ihr für kreative Ideen. Ein Kollege sagte: „So stelle ich mir Fließbandarbeit vor.“

Die Zeiten sind für die wachstumsverwöhnte Branche rauer geworden. Umstrukturierungen gab es schon immer, aber jetzt beobachtet SAP-Betriebsrat Ralf Kronig, wie ständig noch mehr aus den Leuten herausgepresst werden soll. Alle eineinhalb Jahre gibt es einen großen Umbau und pro Jahr etwa 100 kleine. „Diese ständigen Änderungen machen die Leute fertig“, sagt Kronig. Weiter machen sie trotzdem. Manche bis zum Umfallen. Die Folgen lassen sich bei SAP auch in Zahlen ausdrücken. Von den 17 000 Beschäftigten in Deutschland sind fast 400 langzeiterkrankt, berichtet Kronig. „Unser Krankenstand stieg in den letzten fünf Jahren um 125 Prozentpunkte. Und das sind nur die offiziellen Zahlen des Unternehmens.“

Unsicherheit macht krank

Nicht nur bei SAP, auch in vielen anderen Betrieben wird ständig restrukturiert. Personalabbau, Outsourcing oder der Umbau einzelner Abteilungen folgen in immer kürzen Abständen aufeinander. Bei einer Befragung hatten bereits im Jahr 2006 fast die Hälfte der Betriebsräte innerhalb von zehn Jahren zwischen 5 und 17 Restrukturierungen erlebt.

Was ständige Veränderungen am Arbeitsplatz bei den Menschen anrichten, ist noch wenig erforscht. Dennoch sind sich Psychologen und Arbeitsmediziner sicher, dass es die Gesundheit belastet. Restrukturierungen haben alles, was Menschen krank macht: Sie schaffen Unsicherheit, sie verteilen oft mehr Arbeit auf weniger Schultern, und nicht selten müssen die Beschäftigten auf Geld verzichten. Die Wirkung solcher Belastungen kennt die Wissenschaft. Sie können zu Depressionen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Magengeschwüren und Skeletterkrankungen führen.

Dabei lösen Restrukturierungen manchmal nur Probleme, die man ohne sie nicht gehabt hätte. So brach zum Beispiel in einem Betrieb die Liefertreue ein, nachdem die Geschäftsleitung Arbeitsplätze gestrichen hatte. Es folgten mehr als 100 Veränderungsprozesse pro Jahr. Inzwischen hat sich die Liefertreue verbessert. Für die Beschäftigten bedeutete das allerdings: Wer in den Urlaub ging, musste damit rechnen, seinen Arbeitsplatz bei seiner Rückkehr nicht wiederzuerkennen. So schnell wie sich die Arbeitsplätze veränderten, konnte der Gesundheitsschutz gar nicht reagieren.

Zuerst Beschäftigte fragen

Mediziner wie Wolfgang Panter warnen davor, Beschäftigte in der Umstrukturierung zu vergessen. „Wer den Mensch nur als Kostenfaktor sieht, hat ein Problem. Langfristig schadet das dem Unternehmen“, sagt der Präsident des Betriebs- und Werksärzteverbandes. Viele Unternehmen unterschätzen einfach, wie wichtig die Menschen und ihr Engagement für den wirtschaftlichen Erfolg sind.

Wirtschaftlichkeit und gute Arbeitsbedingungen sind kein Widerspruch. Für die Experten der IG Metall gehören sie unbedingt zusammen. Neue Produktionssysteme müssen Arbeitsbedingungen nicht automatisch verschlechtern. Wie Betriebsräte dabei sogar Missstände beheben oder verbessern können, zeigt ein Projekt der IG Metall. Wichtigste Grundzutat: Zuerst die Beschäftigten fragen.

Diesen Ansatz verfolgt auch Kai Beutler. Betriebsräte holen den Berater aus Würselen, wenn das Unternehmen in Schieflage geraten ist. Dann legt Beutler immer zwei Ziele fest: „Wir wollen die wirtschaftliche Situation und die Arbeitsfähigkeit der Beschäftigten verbessern.“ Mit ihm gibt es nur das ganze Paket. Tretmühlen gibt es schon genug, dazu brauchen die Unternehmen ihn nicht. Denn wirtschaftlich bringen sie Betriebe nicht voran. „In vielen Unternehmen wird nur geguckt, wie man aus den Leuten mehr herausholen kann. Da wird die Gesundheit der Menschen verprasst. Auf Dauer hält das keiner durch.“

Beutler setzt auf das IG Metall-Prinzip „Besser statt billiger“ mit guten Arbeitsbedingungen. Zu seinem Konzept gehört immer: Als erstes die Beschäftigten einbeziehen. „Wenn wir die Leute fragen, was sie an ihrer Arbeit stört, sind es zuerst Abläufe, die nicht funktionieren. Da kann man schon eine Menge machen.“ Zurzeit berät Beutler einen Betrieb, der mit der IG Metall einen Abweichungstarifvertrag abgeschlossen hat. Die Firma muss ihre Wertschöpfung um 1,8 Millionen Euro erhöhen. Kai Beutler hat im Betrieb ein Konzept erarbeitet. Dazu gehören ein neues Schichtsystem mit kurzen Zyklen und Teamarbeit. „Wenn der Betrieb das umsetzt, kann er bald wieder Tarif zahlen.“ Und die Arbeit ist gesünder.

Nicht nur schuften

Ein paar Dinge versucht auch Ulrich Hedtke bei Daimler zu verbessern. Im engen Taktsystem gibt es für jeden Handgriff Zeitvorgaben. „Wir kontrollieren einmal im Monat, ob das zu schaffen ist.“ Auch für sich selbst tut er etwas. Nach Tagen im Takt der Maschine unternahm er immer seltener etwas in seiner Freizeit. „Da willst Du nur noch pennen.“ Schuften, schlafen, schuften – in diesem Rhythmus lebte er, bis er einen Plan machte. Jetzt nimmt er sich jeden Tag etwas vor. Sport treiben, im Garten arbeiten oder Freunde besuchen. Hängen lassen tut er sich nicht.
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