Ein Beispiel, das vor allem heute Schule machen sollte: Seit 50 Jahren gibt es die „Miederstiftung“. Ihre Trägerin, die
Kritische Akademie in Inzell, hat allen Grund, dieses Jubiläum groß zu feiern. Denn als Gewerkschafter und Arbeitgeber 1964 die Miederstiftung gründeten, waren sie ihrer Zeit weit voraus. Seit einem halben Jahrhundert ist der vollständige Name „Stiftung zur Förderung von Bildung, Erholung und Gesundheitshilfe von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern“ Programm.
Das Bildungsangebot richtet sich an
Beschäftigte der Miederindustrie, für die der Tarifvertrag von 1963 gilt. Es reicht von beruflicher Qualifizierung über Gesundheit, Ernährung und Kreativität bis zu Gesellschaftspolitik – und kommt gut an: Rund ein Drittel der anspruchsberechtigten Arbeitnehmer nutzt jedes Jahr die Seminare.
Weiterbildung per Tarifvertrag
Die Grundlage für die Miederstiftung bildet ein Tarifvertrag, den die damalige Gewerkschaft Textil-Bekleidung (GTB) und die Arbeitsgemeinschaft der Miederindustrie ein Jahr zuvor vereinbarten. Die beiden Unternehmen Triumph und Ozo-Zours bilden heute die Arbeitsgemeinschaft. Derzeit überweisen die Firmen für Unterwäsche jedes Jahr 3,4 Prozent der Entgeltsumme an den Verein „Berufs- und Lebenshilfe“, der davon mindestens 25 Prozent an die Stiftung weiterleitet.
Bei seiner Festansprache in Inzell lobte der zweite IG Metall-Vorsitzende Jörg Hofmann diesen Tarifvertrag und diese Stiftung als ein „Erfolgsmodell, das ein wirklich gutes Beispiel dafür ist, was die Tarifpolitik kann“.
Rückblick in die Geschichte
Mehr als 80 Prozent der Kinder besuchen 1960 die Volksschule bis zur 8. Klasse. Eine weiterführende Schule oder gar ein Studium an der Universität ist für Arbeiterkinder die Ausnahme. Weiterbildungsmöglichkeiten für Erwerbstätige gibt es kaum, schon gar nicht gesetzlich geregelte und bezahlte Bildungsfreistellung. Auch Betriebsräte haben nur unbezahlten Anspruch auf Freistellung von der Arbeit für Bildung.
Die Textil- und Bekleidungsbranche der 60er Jahre ist alles andere als ein Biotop. Die Arbeitsplätze sind laut, staubig, die Beschäftigten arbeiten meist in gebückter Haltung. Vor allem Näherinnen kämpfen mit hochgradiger Arbeitsteilung und hohen Taktzeiten. Die große Anzahl der Belegschaften sind Ungelernte.
Anfang der 60er Jahre machen sich die Gewerkschaften auf zu neuen Ufern und pochen auf politische Bildung – als einen wichtigen Ansatz für die gesellschaftliche Emanzipation. Die GTB fordert das tarifliche Recht auf Bildungsfreizeit für Arbeitnehmer. Heftige Arbeitskämpfe prägen nicht nur die Textilbranche. 1963 zum Beispiel reagieren die Metall-Arbeitgeber im Südwesten auf einen zweiwöchigen Streik von 120 000 Arbeitern mit der Aussperrung von 250 000 Beschäftigten.
Gruppenarbeit statt Frontalunterricht
Trotzdem gibt es auch Unternehmer, die sich einen anderen Umgang mit den Gewerkschaften wünschen, wie der Rechtsanwalt Karl-Heinz Koch. Denn genau zu dieser Zeit erklärt er als Vertreter der Arbeitsgemeinschaft der Miederindustrie: „Der Arbeitgeberverband Miederindustrie stellt der Gewerkschaft ohne jedes Mitspracherecht, ohne jede Beanspruchung von Beeinflussung dessen, was damit geschieht, Geld zur Verfügung, um Erholung und Bildung für Arbeitnehmer in diesem Bereich zu organisieren und zu gestalten.“
Gesagt, getan: Am 27. Juni 1963 verpflichten sich die Textil-Arbeitgeber tarifvertraglich, mit zunächst jährlich 2,5 Prozent der Lohn- und Gehaltssumme „Bildung, Gesundheit und Erholung der Beschäftigten zu fördern“. Im April 1964 gründen die Tarifparteien hierfür die
gemeinnützige Miederstiftung.
13 Jahre später wird die
Kritische Akademie im oberbayerischen Inzell errichtet. Zuvor finden die Seminare in angemieteten Häusern oder Hotels statt. Die Akademie ist von Anfang an geplant als ein neues Modell der gewerkschaftlichen Bildung. Teilnehmerorientierung, Gruppenarbeit, Diskussionen und selbstständiges Entwickeln von Gedanken bilden den Kern des pädagogischen Konzeptes. Frontalunterricht oder Dozieren vom Rednerpult sind tabu.
Seit einigen Jahren hat die Stiftung ihren
Bildungsbereich über die Miederindustrie hinaus erweitert und bietet auch Seminare für Beschäftigte sowie für Betriebsräte aus anderen Branchen an. Insbesondere die berufliche Fort- und Weiterbildung im Bereich Computer und Arbeitswelt ist heute Schwerpunkt.
Produktionsverlagerungen und die Folgen
In den 70er Jahre beginnen die Unternehmen der deutschen Textil- und Bekleidungswirtschaft, ihre Produktion in Billiglohnländer zu verlagern – mit der verheerenden Folge, dass Werke komplett von der deutschen Landkarte verschwinden. Mit dem Verlust von hunderttausenden Arbeitsplätzen wird die Gewerkschaft Textil-Bekleidung selbst Opfer der Globalisierung und entscheidet sich 1998, mit der IG Metall zu fusionieren.
Die Produktionsverlagerungen meist in asiatische Länder haben die Stiftung und die Kritische Akademie veranlasst, einen
Preis für Projekte auszuloben, welche die Arbeitsbedingungen in den Ländern verbessern helfen. Der Preis ist nach dem früheren GTB-Vorsitzenden Karl Buschmann benannt und mit 10 000 Euro dotiert.
Vorbild für andere Branchen
Der Erwerb eines höheren Abschlusses während der Berufstätigkeit scheitert heute oft an zwei Faktoren: Zeit und Geld. Das bestätigte auch die große Beschäftigtenumfrage der IG Metall 2013. 45 Prozent der befragten Arbeitnehmer gaben an, dass ihnen zur beruflichen Weiterbildung das Geld fehle oder die erforderliche Zeit (47 Prozent). Für die IG Metall sind das klare Aussagen, die sie ernst nimmt und jetzt in den anstehenden Tarifrunden aufgreifen will. Ihr Vorschlag ist, eine Bildungsteilzeit in Tarifverträgen zu verankern.