Das Virus im Kopf

Verschwörungsmythen zu Covid-19 und den Coronaviren lauern zurzeit im Betrieb genauso wie im privaten Umfeld. Für viele Metallerinnen und Metaller heißt das nicht zuletzt wegen des Gesundheitsschutzes: diskutieren, diskutieren, diskutieren.

1. Oktober 20201. 10. 2020
Jacqueline Sternheimer


„Glaubst Du da etwa noch dran?“, ist einer der Sätze, die Frank Hauck, Betriebsrat und Respektbotschafter bei Daimler in Wörth, immer wieder bei Diskussionen zu Corona und Hygienemaßnahmen zu hören bekommt – zuletzt als er einen Kollegen bat, seine Maske zu tragen. Spätestens seit März wird der Kampf ­gegen das Virus auch in den Betrieben, an den Fließbändern und in den Pausenräumen aus­getragen. Die Betriebsräte, die den Gesundheitsschutz der Beschäftigten auf ihre Fahnen geschrieben haben, sind seitdem häufig in Konflikte mit Kolle­ginnen und ­Kollegen verwickelt, die die Maßnahmen nicht akzeptieren.

Alles noch gesunde Skepsis oder schon Verschwörungstheorie? Frank begegnet beidem, ist aber zunehmend damit beschäftigt, gegen die Windmühlen der Verschwörungsmythen anzukämpfen. „Im Betrieb höre ich ständig, dass die Chinesen das Virus in die Welt gesetzt haben, weil sie unsere Wirtschaft übernehmen wollen“, berichtet er von seinen Erfahrungen. Mit dieser Form von Wirtschafts­kriminalität kann Frank nur wenig anfangen. „Andere behaupten, dass das Virus in die Welt gesetzt wurde, damit Impfstoffe teuer verkauft werden können und am ­besten um gleich noch jeden zwangszuimpfen“, berichtet Frank. Bei Impfgegnern kommt der von Gesundheitsminister Jens Spahn in Dauerschleife gesprochene Satz, dass es trotz Corona keine Impfpflicht geben wird, nicht an – von Franks Argumenten ganz zu schweigen.

Doch hier geht es um mehr als um Impfgegner oder Vorwürfe gegen die Pharmaindustrie, denn oft folgt die Frage: Und wer steckt dahinter? „Da ist man in den Diskussionen schnell beim ­Finanzkapital angekommen“, sagt Frank und er hört nicht zufällig immer wieder dieselben Namen fallen. Ob Bilderberg-Konferenz, die Familie Rothschild oder George Soros – oft sollen es jüdische Familien sein, die das Kapital zusammengezogen ­haben und die Strippen in den Hinterzimmern ziehen.

„Ihr wisst ja, wem das Geld gehört“, ist ein oft­ gehörter Satz, dem Frank begegnet und der sich nicht selten als Vorbote antisemitischer Klischees ­entlarvt hat.

„Verschwörungsvorstellungen werden dann gefährlich, wenn sie handlungsweisend sind“, weiß auch Chaja Böbel, Bildungsreferentin des IG ­Metall-Bildungszentrums Berlin. „Das heißt, wenn ­jemand der Überzeugung ist, dass die Erde eigentlich flach ist und keine Kugel, dann schadet das erst ­einmal niemandem außer vielleicht dem eigenen Kind im Erdkundeunterricht“, sagt Chaja. Sobald aber eine Reaktion auf die Verschwörungsmythen folgt, die andere beeinträchtigt, werde es „schnell brandgefährlich“, weiß Chaja. „Im Fall von Corona-Verschwörungsvorstellungen beginnt die Gefahr schon früh, weil jedes Bestreiten, dass es die Krankheit gibt, dazu führt, dass diese Menschen auch nicht den nötigen Abstand halten, ihre Hände regelmäßig desinfizieren oder die Maske tragen – dadurch steigt eine mögliche Ansteckungsgefahr.“

Definitionen für Verschwörungstheorien gibt es wie Sand am Meer. Chaja, die seit März bereits um die 80 Onlineseminare zum Thema Corona und Verschwörungstheorien für die IG Metall gehalten hat, definiert sie so: „Es handelt sich um eine Verschwörungsvorstellung, wenn Leute eine sehr starre Vorstellung von der Welt haben, in der sie einen Unterschied ­zwischen Erscheinungsebene und Erklärungsebene machen – oder anders gesagt: Nichts ist, wie es scheint, alles wird uns nur vorgegaukelt.“ Die „Wahrheit dahinter“ ist somit nur jenen zugänglich, die „erkennen“, wie es viele Verschwörungs­verbreiter, auch Kader genannt, nahezu spirituell bezeichnen.

„Viele bekommen einfache Antworten aus ihren Informationsmedien. Einfache Antworten führen zu entsprechend einfachen Argumenten“, sagt auch Frank. Dabei ist die Entstehung und Wirkung von Viren ein hochkomplexes Thema und nicht einfach herunterzubrechen. „Du musst das geschlossene System aufbrechen“, sagt er, „damit sie aus ihrer Informationsblase herauskommen.“ Das heißt konkret: argumentieren und gleichzeitig Quellen nennen, die das Gegenüber nachprüfen kann. „Ich habe ein paar Websites auf meinem Handy gespeichert, die ich in solchen Fällen verschicken kann, und vielleicht klickt der Kollege dann doch mal während der Zigarettenpause auf die Seite vom Robert-Koch-Institut.“ Frank will denen, die noch mit sich reden lassen, helfen, sich zu befähigen, sich kritisch zu informieren – ohne dabei oberlehrerhaft zu sein.

Was aber hat das Ganze mit der IG Metall zu tun? „Zum einen ist die IG Metall auch für die ­Gesundheit der Beschäftigten verantwortlich und zum anderen steckt auch eine politische Dimension dahinter, denn die IG Metall positioniert sich klar gegen rechts“, weiß die Metallerin Chaja. „Unsere Stärke besteht ja auch darin, dass wir auf solidarische Antworten setzen und nicht einfache, rückwärtsgewandte Zustände zementieren.“ Dem stimmt auch Frank zu. Sein Ratschlag an die Metallerinnen und Metaller: „Hört nie auf zu diskutieren. Wir sind eine demokratische Organisation und zu einer Demokratie gehört die Diskussion.“

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