... allem: Welche Rolle spielt zukünftig der Mensch? Eine Spurensuche.
Die Revolution kommt lautlos daher, lautlos und im handlichen Format: ein kleiner leichter Kasten, durchsichtiger Boden, blauer Deckel, geschwungene Gravur. Neun Zentimeter lang, sechseinhalb Zentimeter breit, einen Zentimeter dick. Ein Visitenkartenhalter, nichts weiter. Nichts Besonderes. Könnte man denken. Und würde sich irren.
Kaiserslautern, einheißer Tag im Juni. In einem kühlen Raum im Erdgeschoss des Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) steht die Anlage, die vorhin mit stiller Präzision den Visitenkartenhalter zusammengeschraubt hat: eine „Smart Factory“, eine ganze Produktionslinie, die aufgebaut und ausgerichtet ist auf den Grundlagen von Industrie 4.0.
Was Industrie 4.0 bedeutet, wie Industrie 4.0 funktioniert, das kann man am besten hier erfahren. Zusammen mit Detlef Zühlke, der am DFKI über Fabriksysteme forscht und Initiator sowie Vorsitzender der 2005 gegründeten Industrie-4.0-Forschungsplattform „Smart Factory“ ist. Wieweit die Forschung auf diesem Gebiet heute ist, das zeigt die Anlage, die diese Visitenkartenhalter produziert.
Schaut man den Maschinen bei der Arbeit zu, erscheint alles simpel, wenig kompliziert: Ein Greifer greift sich die Grundplatte des Visitenkartenhalters. Eine Miniaturfräsmaschine bringt anschließend eine individuelle Gravur ein. Danach wird der Rohling gewendet und auf ein Förderband gelegt, auf dem es von Station zu Station gefahren wird. So lange, bis am Ende der fertige, rundum geprüfte Visitenkartenhalter ausgespuckt wird. Auf ihrem Weg wird die Grundplatte immer weiter bearbeitet, sie bekommt ein farbiges Gehäuse, es werden Klammern angesteckt, schließlich wird eine Gravur angebracht. Viele verschiedene Maschinen bearbeiten den Rohling, bis aus ihm ein fertiger Visitenkartenhalter geworden ist. Eine völlig automatisierte Produktion. Aber das ist nicht das Entscheidende.
Entscheidend ist, dass die Grundplatte, eingelesen über einen sogenannten RFID-Chip, sämtliche Auftrags- und Produktionsdaten mit sich führt, so dass die Maschinen wissen, was sie zu tun haben, ob sie ein blaues oder ein rotes Gehäuse auf die Platte anbringen müssen. Dabei kommunizieren die einzelnen Maschinen in der Anlage nicht nur mit dem jeweiligen Produkt, sondern auch untereinander – wohlgemerkt: Maschinen, die von unterschiedlichen Herstellernstammen. Insgesamt zehn verschiedene Unternehmen haben sich an der Realisierung der Anlage beteiligt, Bosch Rexroth etwa lieferte das Modul, mit dem die Federn eingesetzt werden, die Firma Festo stellte die Technik zum Gravieren der Rohlinge.
Möglich wird diese bruchlose Kommunikation zwischen den Maschinen, weil es standardisierte Schnittstellen gibt, weil Software und Sensoren dafür sorgen, dass die Maschinen ähnlich wie Geräte an einem PC beliebig miteinander verknüpftwerden können können. Jede Maschine erkennt, welche Maschinen links und rechts von ihr stehen und weiß, welcher Arbeitsschritt an dem Produkt vollzogen wurde. Und welcher noch nicht.
Und schließlich ist auch der Mensch eingebunden und integriert indem vernetzten System wechselseitiger Kommunikation: In Zusammenarbeit mit der Firma Mini Techat die einen speziellen Handarbeitsplatz entwickelt, an dem Tester der Anlage die Endmontage und -kontrolle des Visitenkartenhalters ausführen. Dabei hilft ein Computer, der ihnen sämtliche nötigen Daten und Arbeitsschritte Schritt für Schritt zeigt.
Wenn über Industrie 4.0 gesprochen wird, ist also das Zusammenspiel von drei Komponenten gemeint: erstens das intelligente Produkt. Einzelteile, die selbstständig mit der Produktionsanlage kommunizieren und die aktiv in den Produktionsprozess eingreifen. Zweitens die vernetzte Maschine, die mit anderen Maschinen, Produkten und Menschen kommunizieren kann. Drittens der Beschäftigte selbst. Er ist ausgestattet mit sogenannten Augmented Reality-Assistenzsystemen, mit Datenbrillen wie Google Glass und Geräten mit Touchpads, also Tablets und Smartphones, die ihm ständig Informationen geben und teilweise auch mit Anleitungen bei der Arbeit helfen.
Nach Dampfmaschine, elektrischem Fließband und der Einführung des Computers dreht es sich bei der vierten industriellen Revolution also darum, dass die körperliche, dingliche Welt mit der virtuellen Welt der Daten, des Internets verschmilzt. In Zukunft sollen die intelligenten Fabriken in Echtzeit auf Veränderungen im Marktumfeld oder der Wertschöpfungskette reagieren können. Letztlich soll eine Produktion von Einzelstücken möglich werden, die ebenso schnell und kostengünstig vom Band laufen wie Massenware. Das sind die Hoffnungen. Ob sie sicherfüllen oder nicht, wird man sehen.
Doch vieles davon gibt es schon heute. Industrie 4.0 ist keine Science-Fiction aus dem Labor. Sie hält längst Einzug in die Industrie. Bosch, Siemens, Festo, Daimler, Volkswagen, und viele andere Unternehmen haben sich mit der Wissenschaft in gemeinsamen Projekten zusammengeschlossen. Die Bundesregierung fördert die Projekte bislang mit mehr als 120 Millionen Euro und hat weiteres Geld in Aussicht gestellt. In den Entwicklungsabteilungen wird an neuer Software, Sensoren, Robotern und Augmented-Reality-Assistenzsystemen gebastelt.
Einiges davon hat es bereits in die Fabrikhallen geschafft: Bei Bosch in Homburg etwa ist die Logistik digital vernetzt. Die Behälter der hier gefertigten Diesel-Einspritzsysteme sind mit RFID-Chips bestückt, die Signale senden. Sobald ein Beschäftigter ein Teil aus den Regalen zieht, bestellt er an einem RFID-Lesegerät die Teile automatisch nach. Die zeitraubende, fehleranfällige Buchung per Hand entfällt. Das Signal läuft automatisch in Echtzeit durch die Systeme, vom Autohersteller, der die Pumpen verbaut, bis hin zu den Zulieferern von Bosch.
Das Siemens-Elektronikwerk in Amberg ist komplett digitalisiert. Bei der Entwicklung von neuen Produkten wird zugleich ihre Fertigung mitentwickelt. Alle Komponenten sind in der Datenbank hinterlegt, ohne Barrieren von Bereich zu Bereich. Über 1000 Produktvarianten laufen praktisch fehlerlos vom Band. Autobauer wie Volkswagen setzen auf sogenannte Multimodelllinien, auf denen dank standardisierter Baukästen verschiedene Varianten von einem Band laufen. Schon heute können sich Kunden ihr Auto am PC oder invirtuellen Verkaufsräumen zusammenklicken. In Zukunft sollen sie darauf nicht mehr monatelang warten, sondern mittels totaler Vernetzung ihr Auto quasi in Echtzeit aufs Band schicken. Bei all dieser geballten Technik stellt sich die Frage: Was wird aus dem Menschen? Welche Rolle spielt der Beschäftigte in der Industrie 4.0?
Eine größere als bisher, glaubt Detlef Zühlke. „Der steigende Automatisierungsgrad, der mit Industrie 4.0 erreicht wird, kann zu neuen Freiräumen führen. Zu einer kreativeren Arbeit als heute.“ Voraussetzung dafür sei allerdings, dass das Qualifikationsniveau der Beschäftigten steige. Und dass die Unternehmen die Chancen von Industrie 4.0 konsequent nutzten. Zühlkes Antwort zeigt: Die Frage ist nicht leicht zu beantworten. Noch gibt es zu wenig Erfahrung, zu wenig Anwendungsfälle. Zwei Szenarien sind denkbar: Im ersten ergeben sich Beschäftigte ganz neue Freiheiten. Neue Arbeitszusammenhänge, mit mehr Eigenverantwortung und Entfaltungsmöglichkeiten. Auf der anderen Seite aber besteht die Gefahr, dass Arbeitnehmermit falscher oder geringer Qualifikationen auf der Strecke bleiben – und die übrigen zu einem kleinen Rädchen innerhalb eines vernetzten Systems werden.
Für Jörg Hofmann ist deshalb klar, dass sehr viel davon abhängen wird, wie Industrie 4.0 konkret umgesetzt wird: „Das Internet der Dinge verlangt eine andere Arbeitsorganisation“, sagt der Zweite Vorsitzende der IG Metall. „Zur effizienten Nutzung braucht es Kreativität und Spielräume.“ Bei den konkreten arbeitspolitischen Gestaltungsansätzen zu Industrie 4.0 müssten „humanorientierte Kriterien“ ebenso eine zentrale Rolle spielen wie umfassende Beteiligungsmöglichkeiten.
Bislang ist die Rolle des Menschen in der Industrie 4.0 ungeklärt, vage. Das zeigen auch die offiziellen Forschungsberichte, die in dieser Kernfrage unklar und widersprüchlich sind. Einerseits heißt es, der Mensch wird als kreativer Planer, Steuerer und Entscheider das Maß aller Dinge bleiben. Etwas weiter unten ist dann davon die Rede, dass Augmented-Reality-Assistenzsysteme die Anforderungen und Anlernzeiten an die Beschäftigten soweit reduzieren, dass Leute von der Straße geholt und an beliebige Arbeitsplätze gesetzt werden könnten.
Fakt ist: Mensch und Maschine rücken enger zusammen. Wie nahe sie sich dabei kommen, kann man bei DMG Mori Seiki in Biele Bielefeld sehen. Mit „Celos“ hat der Werkzeugmaschinen- bauer ein System entwickelt, mit dem es möglich ist, von der ersten Idee bis zum fertigen Produkt sämtliche verfügbaren Planungs-, Prozess- und Maschinendaten zu bearbeiten; mit der Touchpad-Oberfläche können Daten verwaltet, dokumentiert, visualisiert werden. Ausgerüstet mit Apps wie beim Smartphone, kann der Beschäftigte komplexe Aufgaben erledigen. Die Software ermöglicht eine individuelle Konfiguration von Aufträgen. Das Umrüsten der Maschine, das Bearbeiten von Aufträgen geschieht im Dialog zwischen Mensch und Maschine – „menügeführt“, wie Christian Thönes, Vorstand für Produktentwicklung, Produktion und Technologie bei DMG sagt. „Durch eine intuitive Benutzerführung kann jedermit Celos innerhalb von vier, fünf Stunden eine Werkzeugmaschine bedienen. Auch Untrainierte können schnell an komplexe Aufgaben herangeführt werden.“
Thönes glaubt allerdings nicht, dass die Anforderungen an Beschäftigte dadurch drastisch reduziert werden. „Wir werden gut ausgebildete und qualifizierte Fachkräfte brauchen“, sagt er, „noch deutlich mehr als bisher.“ Zwar werde das Bedienen der Maschinen einfacher, zugleich aber müsste ein Maschinenbauingenieur zukünftig „in ganzen Prozesssystemen“ denken. „Der Maschinenbediener wird zum Maschinenmanager.“
Das sieht auch Dieter Wegener, Industrie- Technologiechef bei Siemens, so. Irgendjemanden von der Straße in die Fabrik zu stellen, das hält er trotz Augmented Reality für abwegig. „Assistenzsysteme sind nicht dazu da, um qualifizierte Mitarbeiter zu ersetzen, sondern um sie von monotonen und zeitraubenden Arbeiten zu entlasten. Wer glaubt, dass in Zukunft alles automatisch vom Schreibtisch aus funktioniert, der war offenbar noch nie in einer Fabrik.“
Dass sich diese Sicht mittlerweile durchsetzt, ist auch der Verdienst der IG Metall. Sie hat sich früh eingemischt und ist in verschiedenen Arbeitskreisen von Wirtschaft und Wissenschaft dabei. Gerade etwa läuft das Projekt „Effiziente Fabrik 4.0“ an der Technischen Universität Darmstadt an, an dem die IG Metall beteiligt ist. In einer Prozesslernfabrik wird in Experimenten untersucht, wie der Mensch in der Industrie 4.0 gut arbeiten und lernen kann. Für Reiner Anderl, Leiter des Fachgebiets Datenverarbeitung in der Konstruktion, ist der Mensch der Orchesterchef in der Fabrik 4.0. „Selbst bei virtuosen Musikern kann das Zusammenspiel grausig klingen, wenn sie nicht richtig dirigiert werden.“
Ob es tatsächlich so kommt, ist völlig offen. Wird der Mensch kreativer Dirigent in der Fabrik der Zukunft? Oder nur willenloser Augmented Operator – dem Takt der Maschinen ausgeliefert und unter ständiger Kontrolle? Wie viele Menschen werden in der Fabrik 4.0 arbeiten? Sicher ist lediglich: Gewerkschaften, Betriebsräte, Vertrauensleute und Beschäftigte haben viel zu tun, um diese Fragen zugunsten der Menschen zu entscheiden. Sie müssen Arbeitsplätze und betriebliche Weiterbildung mitgestalten und Regeln setzen. Für eine Industrie 4.0 mit guter, qualifizierter Arbeit für viele Beschäftigte.