Die Zukunft der Industriearbeit kommt an diesem Morgen ganz unspektakulär daher. Durch den Haupteingang durch, am Werkstor vorbei, rechts ’rum zur Halle: Ein unscheinbarer, funktionaler Zweckbau inmitten des großen Siemens-Werksgeländes, Tür auf, Treppen hoch, Willkommen in der neuen Welt. Willkommen im Elektronikwerk Amberg.
Am Stadtrand des 40 000-Einwohner-Städtchen in der Oberpfalz mit pittoresker Altstadt und Kurfürstlichem Schloss hat Siemens eine der modernsten Fabriken der Welt hingestellt: eine digitale Fabrik, in der wichtige Grundprinzipien von „Industrie 4.0“ umgesetzt sind. Und sich in der Praxis bewähren. Die Frage ist: Was genau versteckt sich hinter dem rätselhaften Begriff „Industrie 4.0“, was macht die digitale Fabrik tatsächlich aus? Und, vor allem: Was bedeutet fortschreitende Digitalisierung und umfassende Vernetzung für die Arbeit der Menschen? Jörg Hofmann und Jürgen Kerner, der auch Mitglied im Siemens-Aufsichtsrat ist, haben bei ihrer Werksbesichtigung einen Blick in die Zukunft der industriellen Produktion geworfen – und sind den Fragen auf den Grund gegangen.
Nahezu fehlerfrei
Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache, sie erzählen davon, wie rasant Digitalisierung voranschreitet, wie umfassend es auf die Arbeitsprozesse einwirkt: Seit seiner Gründung im Jahr 1989 stellt Siemens in Amberg die Simatic her. Mit den programmierbaren Steuerungen lassen sich Maschinen und Anlagen automatisieren: das Bordsystem von Kreuzfahrtschiffen ebenso wie die Fließbänder in einer Autofabrik. Die rund 1 300 Beschäftigten des Werkes produzieren hier für 60 000 Kunden in aller Welt in jeder Sekunde ein neues Produkt – und so gut wie alle von ihnen sind fehlerfrei. Die Prozessqualität in Amberg, darauf verweisen die Siemens-Manager voller Stolz, liegt bei 99,9988 Prozent, was bedeutet, dass auf eine Millionen Prozessschritte lediglich elf Fehler kommen.
In Amberg wird die Digitalisierung mit viel Kraft vorangetrieben. Mehr als 75 Prozent der Produktion sind heute bereits automatisiert. Alle Objekte, die in der Fabrik zum Einsatz kommen, alle Bauelemente und alle Produkte, lassen sich identifizieren. Von ihnen werden sämtliche Prozesswerte erfasst, Bearbeitungszeitpunkt, Löttemperaturen, Drehmoment. Tag für Tag kommen so mehr als 50 Millionen Datensätze zusammen – und diese Daten ermöglichen eine komplette Auswertung, das Analysieren und Ausschalten von Fehlern noch im Produktionsprozess.
In der digitalen Fabrik in Amberg herrscht eine unablässige und umfassende Kommunikation aller mit allen: Die Rohlinge manövrieren sich eigenständig durch die Produktion, Maschinen und Werkstücke kommunizieren direkt miteinander, Menschen und Maschinen arbeiten an einzelnen Arbeitsstationen „Hand in Hand“ zusammen. Auf diese Weise ist es möglich, auch sehr kleine Stückzahlen effizient herzustellen und durchgängig auf Nachfrage hin zu produzieren. 24 Stunden nach der Bestellung, das ist der Anspruch, soll die Simatic auf dem Weg zum Kunden sein. Alles hochautomatisiert, alles hocheffizient, alles schön und gut. Was aber ist mit den Beschäftigten? Welchen Platz nehmen sie ein?
Qualifizierte Beschäftige unabdingbar
„Die technischen Möglichkeiten haben etwas potenziell Emanzipatorisches ― starre Arbeitsstrukturen in der Produktion können damit aufgebrochen werden“, sagt Jörg Hofmann, „Chancen wie diese werden aber nur dann realisiert, wenn der Mensch in der Industrie 4.0 die zentrale Rolle spielt. Er muss Herr über die Maschinen sein und darf nicht von ihnen beherrscht werden.“
In Amberg argumentieren sie, dass es erst die Qualität der Daten ermöglicht, dass der Mensch effizient agieren und eigenverantwortlich entscheiden kann; letztlich, so Werksleiter Günter Ziebell, sei die digitale Fabrik nichts anderes als eine bestmögliche Unterstützung für den Menschen: In der Produktionshalle in Amberg erledigen Roboter ergonomisch anstrengende Arbeit. Überall hängen Monitore, die Informationen einblenden, bei der Fehlerkontrolle von Leiterplatten werden die Beschäftigten von Computern unterstützt: Auf einem Bildschirm erscheint das zu prüfende Produkt stark vergrößert, dazu werden wichtige Daten angezeigt. Die gesamte Produktion wird komplett aufgezeichnet, die Beschäftigten können aufgrund dieser Datengrundlage eigenverantwortlich eingreifen, Maschinen stoppen, Fehler beheben.
„Industrie 4.0 wird im gesamten Siemens-Konzern immer wichtiger werden. Dafür sind motivierte, hochqualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die unabdingbare Voraussetzung“, erläutert Jürgen Kerner. „Die IG Metall wird in diesem Sinne den Umbauprozess kritisch begleiten und mit eigenen Initiativen bereichern. Die Belegschaft ist kein Kostenfaktor, sondern eine Investition, die stetig gefördert werden muss.“
Über Personalabbau haben sie in Amberg in all den Jahren noch niemals nachgedacht. Die Simatic-Technik ist etabliert, Siemens beherrscht von hier aus den Weltmarkt und verdient viel Geld ― von dem ein Teil wieder zurück ins Werk fließt und für die kontinuierliche Investition in neue Anlagen verwendet wird. Doch es geht eben nicht nur um die Weiterentwicklung der Technik. „Eine digitale Fabrik wie hier in Amberg braucht qualifizierte Beschäftigte“, sagt Jörg Hofmann, „unter den Bedingungen von Industrie 4.0 werden sich über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg Qualifikationsprofile verändern. Die Unternehmen sind jetzt in der Pflicht, bei Ausbildung und Qualifizierung der Beschäftigten vorausschauend und klug zu agieren. Da ist deutlich mehr gefordert als reine Anpassungsqualifizierung.“